von Eugen Gabriel

 1. Wissenschaftlicher Kontext und Entstehungsgeschichte

Der VALTS ist ein Kleinraumatlas in der Tradition der deutschen Sprachgeographie des 20. Jahrhunderts, die in Atlaswerken wie dem „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (SDS) von Rudolf Hotzenköcherle die basisdialektale Arealstruktur des Deutschen mit modernen feldlinguistischen Methoden erhebt. Der VALTS umfasst einen weiteren Ausschnitt des deutschen Sprachraums, namentlich Vorarlberg, Liechtenstein, Westtirol und das Allgäu.

Während meines Studienaufenthaltes beim „Deutschen Sprachatlas“ in Marburg in den Jahren 1961 bis 1963 erhielt ich die Anregung, einen „Vorarlberger Sprachatlas“ zu erarbeiten. Eine theoretische und methodische Vorbereitung auf dieses große Atlasprojekt erfuhr ich durch die Mitarbeit am „Sprachatlas der deutschen Schweiz“ (SDS) unter der Leitung Rudolf Hotzenköcherles in Zürich. Der VALTS steht konzeptionell wie methodisch gänzlich in dieser Tradition.

Vom Beginn der ersten Aufnahmen im Februar 1964 bis zum Abschluss des Atlasses Ende 2006 erstreckte sich die Bearbeitung des VALTS auf über mehr als vier Jahrzehnte.

2. Forschungsziel

Ziel des VALTS ist die Erhebung und Dokumentation des „ältesten noch erreichbaren Sprachzustands“[1], des Basisdialekts. Im Zentrum der Auswertung stehen Laut-, Formen- sowie Wortgeographie.

Neben diesem sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt ist der VALTS auch ein Sachatlas, der durch die Erhebung des Wortschatzes der bäuerlichen Arbeitswelt wie Rinderzucht, Heuarbeit, Alpwirtschaft, Getreideanbau, etc. und durch Fotografien von Geräten und Gegenständen im Abbildungsband den Zustand der alten, vormechanisierten bäuerlichen Welt dokumentiert.

 3. Methode und Durchführung

Erhebungsgebiet: Erhoben wurde in über 250 Aufnahmeorten das Gebiet der „alemannischen Mundarten Vorarlbergs, des Allgäus bis in die Höhe von Kempten, Liechtensteins, die vorwiegend bairischen Mundarten West- und Südtirols und die wiederum alemannischen Mundarten der benachbarten Schweiz“[2]. Dadurch wurde eine z. T. sehr hohe Ortsnetzdichte erreicht (je nach Gebiet zwischen 25% (im dicht besiedelten Allgäu) bis zu 100% (in Liechtenstein))[3].

Datenerhebung: Methodisch folgt der VALTS dem Vorbild des SDS. So wurde das Fragebuch mit ca. 2500 Fragen von dem Exploratoren des SDS Rudolf Trüb übernommen und nur in wenigen Punkten verändert. Die Gewährsleute (2–3 pro Ort) „sollten am Ort geboren und aufgewachsen sein, die Mundart noch gut sprechen können und geistig noch rüstig sein [… sowie] dem Bauernstande angehören“[4]. Die Aufnahmeprotokolle folgen dem Fragebuch und enthalten darüber hinaus Angaben zu den Gewährsleuten. Auch im Transkriptionssystem, der Lautschrift Teuthonista, folgt der VALTS der Methodik des SDS. Es werden Zeichen der Schriftsprache verwendet und durch diakritische Zusatzzeichen ergänzt.[5]

Die Ersterhebungen in Vorarlberg und Liechtenstein fanden von 1964–1968 statt. Gemeinsam mit Werner König wurden von 1972–1975 die Erhebungen im Allgäu durchgeführt. In West- und Südtirol habe ich (bis auf elf Aufnahmen von Werner König) alle Erhebungen im Zeitraum von 1972–2003 größtenteils auf eigene Kosten durchgeführt.

In den Jahren 1976 bis 1980 fanden zur Absicherung der Ergebnisse noch zahlreiche Nacherhebungen in Vorarlberg und Liechtenstein, sowie gemeinsam mit Renate Schrambke und Hubert Klausmann im Allgäu und gemeinsam mit Erich Seidelmann in West- und Südtirol statt.

Kartierung: Die Sprachkarten des VALTS verwenden das Punkt-Symbol-Verfahren. Die Aufnahmeorte wurden nummeriert, um die Zitierung in Kommentar und Legende zu vereinfachen. Die Nummerierung erfolgt länder-/landschaftsweise: L(iechtenstein) 1–11, V(orarlberg) 1–86, A(llgäu) 1–37, T(irol) 1–7 und W(ürttemberg) 1–17. Zwei Symbole werden an den Orten durch Komma getrennt aufgeführt, wo sich eine ältere von einer jüngeren Lautung unterscheiden ließ, wobei die ältere an die erste Stelle links gesetzt wurde. Zu jeder Karte wird in den ausführlichen Kommentarbänden eine Beschreibung und Interpretation durch die jeweiligen Bearbeiter gegeben.

Publikation: Insgesamt sind von 1985 bis 2006 fünf Kartenbände (Lautgeographie I und II, Formengeographie, Wortgeographie I und II), neun Kommentarbände sowie ein Abbildungsband erschienen. Weitere Bearbeiter der Kartenbände waren Hubert Klausmann (Lautgeographie I, Wortgeographie I und II) und Thomas Krefeld (Wortgeographie I).

 4. Wissenschaftliches Resultat

Der VALTS ist ein abgeschlossener Regionalatlas zur Phonologie, Grammatik und Lexikographie der alemannischen und bairischen Dialekte des Gebiets des Vorarlbergs, Liechtensteins, Allgäus sowie Westtirols.

Mit der präzisen Erhebung und Dokumentation im Erhebungsgebiet des VALTS wurde für ein weiteres Gebiet des deutschen Sprachraums der Basisdialekt dokumentiert. Dadurch hält dieser Atlas linguistisch aufbereitetes und sorgfältig kommentiertes Sprachmaterial bereit, das zur Beschreibung und Analyse von sprachdynamischen Entwicklungen herangezogen und ausgewertet werden kann.

Daneben geben die Sprachkarten auch Hinweise für die Beantwortung volkskundlicher Fragestellungen. So lassen sich Besiedlungsprozesse vor mehreren Jahrhunderten und der Germanisierungsprozess des Sprachraums in Ansätzen rekonstruieren.

 5. Exemplarische Karteninterpretation

Viele Sprachkarten aus der Laut- und Formengeographie verdeutlichen die sprachlichen Besonderheiten Liechtensteins. Immer wieder kann festgestellt werden, dass sich Liechtenstein und die nähere Umgebung vom übrigen Alpenrheingebiet abheben. Die folgenden Beispiele können mit Hilfe der digitalisierten VALTS-Karten in DiWA nachvollzogen werden.[6]

Beispiele aus dem Vokalismus:

Die Entwicklung von mhd. o vor r

Vor r wird mhd. o immer offen gesprochen: bòra «bohren» verlòòra «verloren». Folgt diesem r aber noch ein weiterer Konsonant, wird dieses offene o im Unterland (ohne Hinterschellenberg) zu -a-: harn «Horn», Argla «Orgel», Marga «Morgen» (VALTS I 145).

Die Entsprechung von mhd. ei (VALTS II 85, 87b, 88, 90a, 95, 101a)

Die Veränderungen bei mhd. ei führten in Liechtenstein zu einem vielfältigen Bild, das sich aber offenbar gerade sehr stark verändert. Eugen Gabriel trifft folgende Unterscheidung:

  • Im Unterland gibt es zwei verschiedene Entsprechungen:

Ruggell, Gamprin, Hinterschellenberg haben einen offenen, gedehnten o-Laut: Sòòl «Seil», Tòòl «Teil», hòòßa «heißen», zòòga «zeigen», Lòòtera «Leiter».

In Eschen und Mauren spricht man in all diesen Fällen einen a-Laut: Saal, Taal, haaßa, Laatera. Taag bedeutet hier «Teig» und «Tag».

  • Im Oberland ist dagegen in diesen Fällen ein überoffener ä-Laut zu hören Sääl, Tääl, hääßa, Läätera, zääga. Wir finden diesen Laut auch in Appenzell und im Walgau.
  • Vor Nasal sind die Verhältnisse wieder anders. Im Unterland gilt dann in allen Orten -òò-: Bòò «Bein», Schtòò «Stein»…

Beispiel aus dem Konsonantismus:

Auch bei den Karten zum Konsonantismus heben sich die Liechtensteiner Mundarten von ihren Vorarlberger Nachbarn ab. So hört man in Liechtenstein für germanisches k nach l und r einen ch-Laut, der manchmal zu -h- abgeschwächt wird. Man sagt hier zum Beispiel schtarch «stark» (VALTS III 47), während man in Vorarlberg überall ein aspiriertes -kh- spricht: schtarkh.

Beispiele aus der Morphologie:

Bei den Karten zur Grammatik finden wir immer wieder den Fall, dass sich das Liechtensteiner Unterland vom Oberland in der Bildungsweise der Formen (Morphologie) unterscheidet. So lautet beispielsweise die mundartliche Form von «wir haben» (VALTS III 107) im Unterland hòn, im Oberland hend, für «getan» (VALTS III 115a) hört man im Unterland ein nasaliertes tòò, andernorts tua. Die 1. Pers. Plural von «tun», also «wir tun» (VALTS III 116) hat im Unterland die Wortform tònn, sonst twan(d)

Karteninterpretationen zur Wortgeographie finden sich in Hubert Klausmann: Wortgeographie der Sprachlandschaften Vorarlbergs und Liechtensteins. Umgrenzung, Innengliederung und äußere Einflüsse in der Wortgeographie zwischen Alpenrhein und Arlberg. (Deutsche Dialektgeographie 94) Marburg 2002.

 6. Künftige Forschungsperspektiven

Im Rahmen des Projekts „Erfassung des dialektalen Sprachguts in Südtirol“, mit dem das Institut für Germanistik der Universität Innsbruck vom Südtiroler Landesarchiv 1997 beauftragt wurde, wurden 64 Aufnahmen bei 240 Gewährspersonen aus allen Teilen Südtirols durchgeführt. Neben den Aufnahmeprotokollen, die dem altbewährten Fragebuch folgen, wurden auch Tonbandaufnahmen gemacht, um Hörbeispiele der einzelnen Ortsdialekte zu erhalten. Die gesammelten Daten bilden das Tiroler Dialektarchiv (http://www.uibk.ac.at/germanistik/tiroler_dialektarchiv.html). Kopien der Ortsaufnahmen von Südtirol befinden sich seit Februar 2003 im Besitz des Südtiroler Landesarchivs.

Eine wissenschaftliche Auswertung und Aufbereitung in Form eines „Sprachatlasses von Südtirol und des angrenzenden Nord- und Osttirol“ (SONT) steht aufgrund fehlender Fördermittel allerdings noch aus.



[1] Gabriel, Eugen (1985): Einführung in den Vorarlberger Sprachatlas mit Einschluß des Fürstentums Liechtenstein, Westtirols und des Allgäus (VALTS). Bregenz, S. 17.

[2] Klausmann, Hubert (2007): Der VALTS: Ein Sprachatlas für Vorarlberg, Liechtenstein, Westtirol und das Allgäu. Eine Einführung in das Gesamtwerk. Sonderdruck aus dem Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein, Band 106, S. 104.

[3] Vgl. die ausführlichen Darstellungen in Gabriel 1985.

[4] Gabriel 1985, S. 18.

[5] Einen Überblick liefert der Einführungsband von Gabriel 1985, S. 66 ff.

[6] Die Beispiele wurden übernommen aus Klausmann 2007, S. 109 ff.