von

Jürgen Eichhoff

 

1. Forschungsgegenstand

Der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen (WDU) war das erste großräumig angelegte Forschungsunternehmen zu den geographischen Verschiedenheiten im Wortgebrauch des Deutschen, das sich von der Bindung an eine der einander polar gegenüber stehenden Varietäten „Dialekt“ und „Standardsprache“ (zur Zeit der Konzeption des Projekts noch vielfach als „Hochsprache“ bezeichnet) freimacht und regionale Unterschiede des deutschen Wortschatzes in den tatsächlich im täglichen Umgang jeweils üblicherweise verwendeten Sprechakten identifiziert und kartografisch darstellt.

Einen zwischen Dialekt und Standardsprache angesiedelten Sprachgebrauch als „Um­gangs­sprache“ zu bezeichnen, war nicht neu. Neu war, dass die Umgangssprache im Verständnis des Projekts nicht als eine nicht weiter präzisierte „Zwischenform“ zwischen der Stan­dard­sprache und den Dialekten definiert wurde, auch nicht als eine gesprochene Form der Stan­dard- bzw. Hochsprache, sondern als eine von ihrer Funktion determinierte Sprachform, eben die „Sprache des (alltäglichen) Umgangs“. Diese Sprachform kann, auf das gesamte deutsche Sprachgebiet bezogen, in ihrer Ausprägung nicht einheitlich sein. Vielmehr variiert sie, wie die Dialekte, von Ort zu Ort mehr oder weniger stark. Deshalb wird im Titel unseres Atlas­werks der Terminus im Plural, „Umgangssprachen“, verwendet, wie man sich ja auch bei den Dia­lekten vorstellt, dass es davon mehrere gibt. In anderen Untersuchungen, die aber auf der Konzeption des WDU beruhen, wird für den Forschungsgegenstand die Bezeichnung „All­tags­sprache“, speziell auch „städtische Alltagssprache“, bevorzugt (Frieberts­häu­ser/Din­gel­dein 1988, Protze 1997).

Die Umgangssprachen stehen, grob gesehen, im Norden des deutschen Sprachgebiets der Standardsprache, im Süden den Dialekten näher. Wie man sich, auf das gesamte deutsche Sprachgebiet bezogen, das Verhältnis der Umgangssprachen zu den örtlich und regional vorkommenden Dialekten bzw. der Standardsprache vorstellen kann, ist in der Einleitung zum ersten Band des WDU (Eichhoff 1977: 11; präzisiert Eichhoff 1997: 186) mithilfe einer Skizze dargestellt.

2. Wissenschaftlicher Kontext und Entstehungsgeschichte

Das Projekt nahm seinen Ausgang von der Tatsache, dass es für die deutsche Sprache keine Informationsquelle gab, die im Sinne der oben genannten Voraussetzungen den aktuellen regionalen Sprachgebrauch adäquat beschreibt oder kartografisch abbildet. Dieser Mangel war auch bei der Vermittlung der deutschen Sprache an ausländische Studierende spürbar – eben dies war das berufliche Tätigkeitsfeld des Autors. Ziel der Untersuchungen wurde dann mehr und mehr, der Fachwelt die Grundlagen für weiterführende Forschungen an die Hand zu geben. Nicht zuletzt hatte das Projekt die interessierte Öffentlichkeit im Blick, die dann auch von den Forschungsergebnissen vielfältigen Gebrauch gemacht hat und noch macht.

3. Erhebungsgebiet und Zeitraum der Erhebung

Die dem WDU zugrundeliegenden Daten wurden im gesamten zentraleuropäischen Gebiet erhoben, in denen Deutsch Nationalsprache oder Amtssprache ist. Dazu gehörten die Bundesrepublik Deutschland in den Grenzen von 1949 bis 1989, die damals noch bestehende Deutsche Demokratische Republik, Österreich, die deutschsprachigen Teile der Schweiz und Italiens (Südtirol) sowie Luxemburg. Aus dem Fürstentum Liechtenstein liegen keine Daten vor, die deutschsprachigen Teile Belgiens kamen in einem von Peter H. Nelde (1987) herausgegebenen Band hinzu. Flächendeckend verteilt wurden jeweils die größeren Städte und Ortschaften einer Gegend als Belegorte ausgewählt.

Die Abfragungen, aus denen die Bände 1 und 2 resultierten, begannen im Jahre 1971 und zogen sich bis 1976 hin; die Bände 3 und 4 waren das Ergebnis von Befragungen, die sich von 1977 bis 1987 erstreckten. Verzögert wurden die Arbeiten nicht zuletzt durch die politische Teilung Deutschlands: die vorgesehenen etwa 80 in der DDR gelegenen Orte zu erreichen, nahm jeweils sieben Jahre in Anspruch. Alle Befragungen waren aber vor dem Wendejahr 1989 abgeschlossen.

Die erste Erhebung in den Jahren 1971 bis 1976 umfasste 402 Orte. Die Ergebnisse sind in den Bänden 1 und 2 des WDU in der Form von 108 Wortkarten dokumentiert. Eine anschließende zweite Umfrage, durchgeführt im Wesentlichen in den Jahren 1977 bis 1987 in denselben Belegorten, fügte einen weiteren Ort in Südtirol sowie die Stadt Luxemburg hinzu, so dass die Gesamtzahl der Belegorte sich auf 404 erhöhte. Die Ergebnisse der zweiten Befragung sind in den Bänden 3 und 4 auf 119 Wortkarten festgehalten. Aus reiner Neugier des Autors, aber auch, weil sie bis dahin nie Gegenstand sprachwissenschaftlichen Interesses gewesen waren, wurden bei beiden Frageaktionen außer Fragen nach dem Wortschatz auch einige Fragen zu regional verbreiteten Erscheinungen der Aussprache und der Grammatik gestellt. Daraus resultierten 26 Sprachkarten, so dass die Gesamtzahl der in den vier Bänden des WDU enthaltenen Karten 266 beträgt.

Schon bald nach Erscheinen des ersten Bandes des WDU wurde der Wunsch laut, Sprachmaterial auch in den Teilen des deutschen Sprachgebiets zu erheben und kar­to­graphisch darzustellen, die in den Bänden des Hauptwerkes nicht hatten berücksichtigt werden können. Der von Peter H. Nelde (1987) erarbeitete Band für die deutschsprachigen Teile Belgiens enthält 60 Karten, die überwiegend an die in den Bänden des WDU veröffentlichten anschließen, jedoch um einige Begriffe ergänzt sind, die als regionaltypisch besondere Aufmerksamkeit verdienten.

4. Methode der Datenerhebung

Die den Sprachkarten zugrundeliegenden Daten wurden teils durch persönliche Befragung der Gewährspersonen, teils mithilfe eines sorgfältig ausgearbeiteten, auf postalischem Wege versandten oder von Person zu Person weitergereichten Fragebogens erhoben. (Abgedruckt im Anhang von Eichhoff 1978 bzw. Eichhoff 1993.) Insgesamt ließen sich zwischen den durch die direkte und die indirekte Methode erhobenen Daten keine relevanten Unterschiede erkennen. In den 84 Belegorten (135 Fragebögen) der DDR durften aus politischen Gründen ohnehin keine direkten Befragungen durchgeführt werden.

Für die Befragung wurde überwiegend die onomasiologische Methode angewendet, das heißt, es wurde gefragt: „Wie heißt an Ihrem Ort gewöhnlich …“, wobei die zu erfragende Sache möglichst umschreibend (aber nicht wörtlich) genannt wurde. Bei beiden Frageaktionen wurde jeweils ein Blatt mit Abbildungen als Hilfsmittel verwendet. Das Ergebnis sind sog. Bezeichnungskarten, das sind Karten, die die im gesamten Untersuchungsgebiet für einen Begriff erhobenen Bezeichnungen auf einem Blatt darstellen.

Als Gewährspersonen versuchten wir in jedem Ort Personen zu gewinnen, die über den dort „üblichen“ Sprachgebrauch kompetent Auskunft zu geben in der Lage waren. Vorzugsweise handelte es sich um jüngere Personen, die in dem jeweiligen Ort geboren und noch dort wohnhaft waren; im Idealfall sollten auch die Eltern, zumindest die Mutter, aus demselben Ort stammen. Überwiegend gehörten sie der sozialen Mittelschicht an und waren in der städtischen Verwaltung tätig. In einer Reihe von Fällen sind Fragebögen von mehr als einer Person ausgefüllt worden, manchmal auch von Gruppen und Schulklassen gemeinsam. Aus jedem Ort liegt zumindest ein Fragebogen vor; wo es möglich war, wurden zwei und mehr Fragebögen ausgewertet.

Bei der Erstellung des Fragebogens wurde zunächst auf solche Begriffe zurückgegriffen, die sich bei den Befragungen zum Deutschen Wortatlas und zu Paul Kretschmers Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache bereits als ergiebig erwiesen hatten. Hinzu kamen Begriffe, die der Verfasser über Jahre hinaus gesammelt hatte, zum Teil auch aus literarischen Texten stammend. Vor allem wurden in den Fragebogen auch Begriffe aus der modernen Welt aufgenommen, die nie zuvor Gegenstand sprachgeografischer Untersuchung gewesen waren, darunter ‚der Traktor’, ‚das Plastik’, ‚der Aufzug’, ‚Fußball spielen’, ‚das Brathähnchen’, insgesamt 17 (Eichhoff 1997: 211-212).

5. Kartierung

Bei der Kartierung des erhobenen Sprachmaterials findet das Punkt-Symbol-Verfahren Anwendung. Bei der Wahl der Symbole kam es vor allem auf die Gewinnung eines prägnanten Kartenbildes, auf die Hervorhebung sprachlich relevanter oder interessierender Erscheinung an, nicht ganz so sehr auf wissenschaftliche Systematik. Deshalb sind die dominierenden sprachlichen Formen durch leichte Strichzeichen (die als standardsprachlich geltende Form vertikal gerichtet), die selten auftretenden Erscheinungen durch markantere Symbolzeichen dargestellt. Sind aus einem Ort mehr als nur eine Form gemeldet worden, werden sie auf der Karte durch ein Komma voneinander getrennt, wird eine der Formen als häufiger vorkommend bezeichnet, steht sie links eines die Zeichen trennenden Punktes. Bei zwei Meldungen von verschiedenen Gewährspersonen sind die Zeichen durch einen Doppelpunkt getrennt, wobei die Antwort der jüngeren Gewährsperson links des Doppelpunkts steht. Auf diese Weise kann ein geübtes Auge das Kartenbild „dynamisch“ interpretieren: Was „links“ steht, ist als stärker oder der jüngeren (nachrückenden) Generation zuzuschreiben markiert.

6. Wissenschaftliches Resultat

Das Resultat des Forschungsprojektes, die vier Bände des Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, ist zunächst eine Fülle wissenschaftlich relevanten Sprach- und Belegmaterials. Darüber hinaus haben der Wortatlas und die bei seiner Erarbeitung entwickelten Einsichten und Methoden in nicht geringer Zahl weiterführende wissenschaftliche Projekte und Untersuchungen angeregt. Der in unseren Wörterbüchern dokumentierte Wortschatz des Deutschen wurde erweitert und präzisiert. Das fortdauernde Interesse einer breiten Öffentlichkeit erweist sich durch die vielfachen Verwendungen von Karten des Wortatlas, in originaler oder adaptierter Form, in Lehrbüchern, Illustrierten und populären Produkten bis hin zu Rätselheften und Kochbüchern.

7. Literatur

Friebertshäuser, Hans/Dingeldein, Heinrich J. (1988): Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen. Tübingen: A. Francke.

Eichhoff, Jürgen (1977): Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 1. Bern/München: Francke.

Eichhoff, Jürgen (1978): Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 2. Bern/München: Francke.

Eichhoff, Jürgen (1993): Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Bd. 3. München/New Providence/London/Paris: Saur.

Eichhoff, Jürgen (1997): Der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen: Neue Wege, neue Erkenntnisse. In: Varietäten des Deutschen. Regional- und Umgangssprachen. Hg. Gerhard Stickel. Berlin/New York, 183–220.

Eichhoff, Jürgen (2000): Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, Bd. 4. Bern/München: Saur.

Nelde, Peter H. (1987): Wortatlas der der deutschen Umgangssprachen in Belgien. Bern/Stuttgart: Francke.

Protze, Helmut (1997): Wortatlas der städtischen Umgangssprache. Zur territorialen Differenzierung der Sprache in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau (Mitteldeutsche Forschungen. 114).