Der folgende Text basiert auf dem Werk:
König, Werner / Schrambke, Renate (1999): Die Sprachatlanten des schwäbisch-alemannischen Raumes: Baden-Württemberg, Bayerisch-Schwaben, Elsaß, Liechtenstein, Schweiz, Vorarlberg. Bühl: Konkordia-Verlag (Themen der Landeskunde 8).
Wir danken den Autoren für die freundliche Bereitstellung.
Der Deutsche Sprachatlas (DSA)
Der Deutsche Sprachatlas ist eine Gründung des Rheinländers Georg Wenker (1852 – 1911), der im Jahre 1876 in Tübingen bei Adalbert von Keller über ein Thema der historischen Sprachwissenschaft promovierte. Schon 1875 hatte er versucht, auf der Grundlage gedruckter Mundartproben die Dialekte des Rheinlandes zu gliedern, was ihm auf diese Weise nicht gelang. Nach diesem Fehlschlag arbeitete er einen Fragebogen aus, den er 1876 an die Lehrerschaft der nördlichen „Rheinprovinzen" schickte. Der Fragebogen bestand aus 42 hochdeutschen Sätzen, die von den Lehrern mit dem üblichen Alphabet in den Ortsdialekt umgesetzt werden sollten. Dieses Verfahren erlaubte Wenker, eine kleine Schrift über das Rheinische Platt mit einer „Sprachkarte der Rheinprovinz nördlich der Mosel“ herauszubringen (Wenker 1877).
1877 versandte er eine neue Fassung seines Fragebogens (mit 38 Sätzen) an die Schulorte Westfalens. Im gleichen Jahr bekam er eine Anstellung an der Universitätsbibliothek in Marburg, wo ihn die philosophische Fakultät bei seinem Projekt unterstützte. Die preußische Regierung sagte unter der Bedingung Mittel zu, daß das Projekt auf ganz Preußen ausgedehnt würde. In den Jahren 1879 und 1880 wurden nunmehr 40 Sätze versandt (vgl. Abb. 3 auf S. 16). Schon 1881 erschienen sechs Karten eines Sprachatlasses von Nord- und Mitteldeutschland (Wenker 1881). Belege aus 30 000 Ortspunkten waren für jede Karte zu verarbeiten: Das war auf die Dauer von einer Person nebenberuflich nicht zu schaffen. Deshalb ging eine Bitte um finanzielle Hilfe an das Amt des Reichskanzlers. Dieser stimmte zu, wiederum mit einer Bedingung: Das ganze deutsche Reich sollte erfaßt werden. So gingen die 40 Sätze in den Jahren 1887 / 88 auch in das südliche Reichsgebiet (Elsaß, Lothringen, Württemberg und Bayern). Die Schweiz und Österreich kamen erst zwischen 1926 und 1933 dazu, Südtirol schließlich 1939. Damit war das gesamte deutsche Sprachgebiet in Mitteleuropa erfaßt; aus 52 800 Orten lagen die Fragebogen mit den Dialektübersetzungen in Marburg (vgl. Abb. 4 auf S. 18).
Dort war ein kleines Institut entstanden, in dem auch nach Wenkers Tod im Jahre 1911 unter Ferdinand Wrede fleißig Karten gezeichnet wurden. Die Karten mit ihren vielen Farben und Symbolen waren aber so kompliziert, daß man nicht daran denken konnte, sie in dieser Form zu publizieren. 1646 Einzelkarten waren in jahrelanger Arbeit entstanden; jeweils drei dieser Karten decken den deutschsprachigen Raum ab, so daß jeweils drei Blätter ein Problem behandeln. Ungefähr 340 Einzelwörter bzw. Wortteile liegen kartiert als Handzeichnungen vor. Wortteile deshalb, weil manchmal nur die Endung, in einem anderen Falle nur der betonte Vokal eines Wortes kartiert wurde.
|
Abb. 3
|
Die „Wenkersätze“ des deutschen Sprachatlas, zusammengestellt von dessen Begründer Georg Wenker, in den Jahren 1879 / 80 an Schulorte in Preußen versandt.
|
Publiziert wurden diese Karten „in vereinfachter Form“: Also nicht die komplizierten farbigen Karten mit allen Einzelheiten, sondern nur die herausgearbeiteten Grenzen; Ausnahmen und Sonderfälle je nach Karte in verschiedener Ausführlichkeit. 1927 erschien die erste, 1956 die letzte der insgesamt 23 Lieferungen, die zusammengenommen 128 Karten enthalten (Deutscher Sprachatlas 1927). Insgesamt aber sind es nur ca. 80 sprachliche Phänomene, die vom publizierten Teil des Deutschen Sprachatlas behandelt werden.
Dieser Sprachatlas hatte, auch wenn nur ein Teil des Materials publiziert ist, eine große Wirkung: Zunächst einmal eine verhindernde, da ein Großteil der regionalen Dialektologie mehr als ein halbes Jahrhundert selbst keine größeren dialekt‑geographischen Unternehmen startete, weil man auf die Ergebnisse aus Marburg wartete. Es wäre auch unmöglich gewesen, ein regionales Atlasunternehmen zu beginnen, weil potentielle Geldgeber immer auf den in Entstehung begriffenen DSA hinweisen konnten. Doch wird ihm auch eine positive Wirkung zugeschrieben: Schon früh (im Prinzip schon am Ende des 19. Jahrhunderts) mußte man das alte Bild von der Gestalt der Einzeldialekte aufgeben: Statt mit relativ geschlossenen Gebieten mit relativ scharfer Abgrenzung nach außen mußte man mit kontinuierlichen Übergängen von einem Dialekt zu anderen rechnen (vgl. aber auch Kap. B II in diesem Buch). Die verwirrende Linienvielfalt der Sprachatlaskarten zwang die damals in der Sprachwissenschaft tonangebenden Junggrammatiker, die von ihnen postulierte Theorie von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze so zu differenzieren, daß (z. B. bei Hermann Paul 1920) diese Ausnahmslosigkeit schließlich nur mehr für die Individualsprache einer Person angenommen wurde.
Zu der Wirkung des DSA gehört es auch, daß verschiedene weitreichende Theorien zur deutschen Sprachgeschichte (z. B. Wrede 1924 und Frings 1957) auf Karten des DSA aufgebaut wurden. Diesen Theorien ist gemeinsam, daß sie aufgrund von Karten, die im wesentlichen die Sprachverhältnisse um 1900 spiegeln, Aussagen machen über (früh)mittelalterliche oder noch frühere Sprachzustände, daß sie auf ganz wenigen Karten beruhen, daß sie die germanistischen Handbücher stark beeinflußt haben und — daß sie heute widerlegt sind.
Was aber blieb, sind z. B. Karten zur zweiten Lautverschiebung (Karte 3 u. a.) und damit zur Abgrenzung der deutschen Dialekte, zur nhd. Monophthongierung (Karte 12 ‘Bruder’), zur nhd. Diphthongierung (Karte 6 ‘beißen’ und 24 ‘Haus’), deren Linie üblicherweise zur Abgrenzung des Schwäbischen vom Alemannischen verwendet wird, oder Karten zur regionalen Abgrenzung verschiedener Beugungsmuster des Verbs (schwäbischer Einheitsplural auf -et, z. B. Karte 7). Abb. 5 auf S. 20 zeigt einen Ausschnitt aus der Karte 24 ‘Haus’.
|
Abb. 4:
|
DSA – Deutscher Sprachatlas, Ausschnitte aus Antworten zum Fragebogen von Reutlingen, Bühl und Herzogweiler (bei Villingen).
|
Bei dieser 1930 erschienenen Karte sind die Schweiz und Vorarlberg nicht berücksichtigt. Die Karte zeigt die Verbreitung der Neuhochdeutschen Diphthongierung in klaren Linien. Einem südwestlichen Huus, das die mhd. Lautung bewahrt hat, steht die diphthongierte Form Haus gegenüber. Der Rhein ist die Grenze für die im wesentlichen elsässischen Formen vom Typ Hüß. Der Typ Hüüs gilt auch im südlichen und westlichen Allgäu, die Schreibungen mit Umlaut treten dort aber zu selten auf, um es den Bearbeitern zu erlauben, ein geschlossenes Hüüs-Gebiet anzusetzen, wie es der Sprachwirklichkeit entsprochen hätte. Genauso machen es die nur selten auftretenden Hous-Schreibungen nicht möglich, die schwäbische Lautung dieses Typs als Gebiet zu etablieren. Damit geht eine wesentliche Eigenschaft des Schwäbischen, der ou- bzw. der əu-Laut in Wörtern wie ‘Haus’, ‘brauchen’, ‘saufen’ usw. verloren.
Schon früh kam auch Kritik an der Methode des DSA auf. Otto Bremer formulierte sie schon 1895 (Bremer 1895), und sie ist im wesentlichen auch heute noch gültig.
Vergegenwärtigen wir uns die angewandte Methode: Ein Bogen mit 40 Sätzen wurde an alle Lehrer des Deutschen Reichs und die angrenzenden Gebiete versandt; diese Sätze sollten in den ortsüblichen Dialekt übersetzt werden. Die damaligen Lehrer hatten sicher keine phonetische Ausbildung. Und das gewöhnliche Alphabet ist phonetisch nicht sehr leistungsfähig. Wo sich Lautunterschiede auch in der Alphabetschrift ausdrücken lassen, da liefert der DSA aber gute Ergebnisse: Ob man pfund, pund oder fund sagt, ob man tid oder zeit sagt, ob waksen oder wassen, ob fest oder fescht, das alles ist in schönen Karten dokumentiert. Verlege ich den Unterschied von [sch] und [s] in den Wortanlaut, versagt die Alphabetschriftmethode: Im Deutschen schreibt man <Stein>, spricht aber schtein. Ein Süddeutscher schreibt als Übersetzung <st-> in den Anlaut dieses Wortes, weil es ja genauso wie in der Aussprache des Schriftdeutschen lautet. Ein norddeutscher Lehrer schreibt aber <st->, weil er ja st- spricht und nicht scht-. Eine genaue, großräumige Karte zu dieser auch prominenten Grenze fehlt deshalb bis heute. Auf diese Weise gab es bisher z. B. keine genauen Karten über die sog. binnendeutsche Konsonantenschwächung, d. h. über den Zusammenfall von b und p, von d und t und von g und k, von dem ein großer Teil des Alemannischen betroffen ist (vgl. König 1994, S. 148), eine im Prinzip sehr wichtige Grenze, weil in diesen Dialekten die jeweils harten Laute p, t, k als b, d, g ausgesprochen werden. Damit besteht in den betroffenen Gebieten kein lautlicher Unterschied zwischen Seite und Seide, zwischen Tusche und Dusche, zwischen Paar und Bar und zwischen Balken und balgen.
|
Abb. 5:
|
DSA – Deutscher Sprachatlas, Ausschnitte aus Karte 24 ‘Haus’. Die Originalgröße der Gesamtkarte beträgt ca. 60 x 56 cm (B x H); der wiedergegebene Ausschnitt ist um etwa 20% verkleinert.
|
|
Abb. 6:
|
Legende zu Karte 24 ‘Haus’ des DSA (s. vorherige Seite).
|
Anmerkung:
Diese Lücke in der alemannischen Dialektforschung ist jetzt teilweise durch eine Veröffentlichung von Renate Schrambke geschlossen, die in ihrem Aufsatz „Lenisierungen im südwestdeutschen Sprachraum“ die Grenze der binnendeutschen Konsonantenschwächung in zwischenvokalischer Stellung auf der Grundlage des Materials zum „Südwestdeutschen Sprachatlas“ aufzeigt (Schrambke 1994).
Mit der vom DSA angewandten Methode läßt sich aber sehr gut feststellen, ob man in einem Dialekt mir mähet, mir mähend oder mir mähe sagt, aber nicht, ob es einen Unterschied beim Diminutiv (Wägele ‘kleiner Wagen’) im Singular und Plural gibt.
Syntax, d. h. die Wortstellung und die Beziehung der Wörter innerhalb eines Satzes, läßt sich per Fragebogen nur in wenigen Ausnahmefällen erforschen. Wenkers Ziel war auf die Geographie von Lauten und Formen ausgerichtet. Eher durch ein Versehen sind im DSA auch einige wortgeographische Karten entstanden; z. B. für ‘Pferd’ (Karte 8), für ‘Dienstag’ (Karte 26) und für ‘Wiese’ (Karte 41).
Anmerkung:
Ein später Nachfahr des DSA ist der von Werner H. Veith und Wolfgang Putschke herausgegebene „Kleine Deutsche Sprachatlas“ (1984), der, basierend auf einer Auswahl von 7 000 Fragebogen, sehr viel mehr Karten (bisher 145) bietet. Seine Mängel sind aber im Prinzip die gleichen, wie sie eben für den DSA geschildert wurden, weshalb hier auf eine weitere Beschreibung verzichtet wird.