von 

Heinrich J. Dingeldein

 

1. Wissenschaftlicher Kontext und Entstehungsgeschichte

Die beiden Projekte Wortgeographie der städtischen Alltagssprache in Hessen (WSAH) und Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens (ALRH) verdanken ihre Existenz einem Neuansatz areallinguistischer Forschung in den 1970er Jahren, als neben die in der traditionellen Dialektologie in der Nachfolge Georg Wenkers und Ferdinand Wredes schwerpunktmäßig untersuchte topische Vari­anz des Deutschen mit dem Aufkommen der modernen Variationslinguistik (zunächst in Gestalt der Soziolinguistik) als wesentliche Ergänzung das Untersuchungsinteresse an der stratischen Varianz trat. Zu diesem Zeitpunkt war offensichtlich geworden, dass sich im Sprachgebrauch des Alltags ein tief­greifender Wandel vollzog: Die jüngeren Generationen nahmen in der sich sozial umstrukturierenden Gesellschaft zusehends Abstand vom dialektal geprägten Sprachgebrauch ihrer Eltern und Großeltern. Gleichzeitig wurde erkennbar, dass die kodifizierte Norm der Standardsprache allenfalls angestrebter Zielpunkt, nicht aber erreichtes Ergebnis der Neuorientierung war.

Die Projekte WSAH und ALRH sind durch ein drittes Unternehmen, den Hessischen Dialektzensus (HDZ), ergänzt worden, in welchem mit der Methode des standar­disierten Mikrozensus Aufschlüsse über die Verteilung von der Dialektkompetenz und der Gebrauchs­frequenz von Dialekt und Standard­sprache in Hessen Mitte der 1980er Jahre gewonnen wurden. Die Ergebnisse des HDZ liegen aufbereitet in einem „Sta­tisti­schen Atlas zum Sprachgebrauch“ vor (Frieberts­häuser/Dingeldein 1989).

2. Forschungsziel

Zielsetzung zunächst des Projekts WSAH war, den alltäglichen Sprachgebrauch der nach dem Zweiten Weltkrieg sozialisierten, mindestens über einen Elternteil eingesessenen Generation in den Mittel- und Oberzentren, also den „Städten“, exemplarisch auf der Ebene des Wortschatzes (und damit in Ergänzung und Abgrenzung zum Deutschen Wortatlas (DWA) von Walther Mitzka) zu erfas­sen und in seiner topischen Verteilung und stratischen Schichtung zu dokumentieren. Ausdrücklich war nicht Ziel der Untersuchung, retrospektiv allein dialektale Formen oder prospektiv allein die erreichten Kom­petenzen in der Standardsprache aufzunehmen, sondern den wirklichen Sprachgebrauch des Alltags „mit Verwandten, Freunden und Nach­barn“ in seiner Mehrdimensionalität erkennbar zu machen. Die Städte wurden in der ersten Unter­suchungsphase als Belegorte ausgewählt, um die entwicklungsaktivsten Bevölke­rungsagglome­rationen in den Blick zu nehmen.

Beim zweiten Ansatz, dem Projekt ALRH, wurde grundsätzlich die gleiche Fragestellung verfolgt, nunmehr aber in ländlichen Siedlungen unter 1000 Einwohnern und mit maximalem geographischem Abstand zu den beim Projekt WSAH erfassten Städten als Belegorte. Die mit sozialen Parametern ver­knüpfte topische Distanz zwischen „Stadt“ und „Land“ sollte Einblicke in den Ausgestaltungspro­zess neu entstehender sprachräumlicher Gliederungen ermöglichen.

Als generelles Ziel wurde angestrebt, die sprachlichen Zustände in Hessen im ausgehenden 20. Jahr­hundert paradigmatisch auf der Ebene des gesprochenen Wortes zu erfassen, um aus den gesammel­ten Daten Schlüsse auf sprachliche Entwicklungstendenzen der gesprochenen deutschen Sprache ziehen zu kön­nen. Die Untersuchungen wurden durchaus als Pilotunternehmen für eine gleichgerichtete Erfassung der sprachlichen Zustände im gesamten deutschen Sprachraum unter Erweiterung des Beo­bachtungsspektrums auf phonetisch-phonologische und morphologische Aspekte, die in den Projekten WSAH und ALRH nur am Rande erfasst wurden, verstanden.

3. Methode und Durchführung

Erhebungsgebiet: Der Beobachtungsraum der Projekte WSAH und ALRH ist durch die politische Grenze des Landes Hessen definiert. Dies ist allein organisatorischen Gründen geschuldet, aus sprach­geographischer Sicht ist die Grenzziehung willkürlich: Sie umschließt nämlich nicht nur die im Wesentlichen innerhalb der Landesgrenzen liegenden, strukturell relativ eigenständigen Dialekt­räume des Mittelhessischen, Nieder- (bzw. Nord-)hessischen und Osthessischen (wobei bei allen dreien Übergangszonen zum Moselfränkischen, Thüringischen und Ostfränkischen festzustellen sind), son­dern sie durchschneidet auch im Süden die zusammenhängende rheinfränkische (südhessisch-pfälzische) Sprachlandschaft, und im Norden schließt sie Randgebiete des Niederdeutschen in west- und ostfälischer Ausprägung mit ein.

Datenerhebung: Zentraler Untersuchungsgegenstand der Projekte WSAH und ALRH ist der Wort­schatz, und zwar in einer paradigmatischen Beschränkung auf 1. Begriffe aus dem Alltag unter Ausschluss fachspezifischer Termini, z. B. aus der den Dialekt prägenden Landwirtschaft, und auf 2. Begriffe, bei denen aufgrund früherer areallexikalischer Untersuchungen anzunehmen ist, dass sie eine topische Varianz besitzen. Erfasst wurden die Daten mit einem standardisierten Fragebuch mit 240 Frageeinheiten, bei denen sich allerdings 22 Fragestellungen auf phonetische/phonologische und morphologische Paradigmen bezogen. Die Aufnahme der Daten erfolgte in direkter Erhebung, wobei beim Projekt WSAH in den Städten je nach Größe drei (Städte mit weniger als 30 000 Einwohnern, fünf (Städte mit 30 000 bis 100 000 Einwohnern) oder sieben Informanten (Städte mit über 100 000 Einwohnern) befragt wurden. In den Dör­fern des Projekts ALRH mit weniger als 1000 Einwohnern waren es durchgehend jeweils drei Informanten. Sie waren zwi­schen 1940 und 1960 geboren worden, sie hatten einen Beruf erlernt, aber kein Hochschulstudium absolviert, und mindestens ein Elternteil stammte aus dem Belegort. Die Fragen des Fragebuchs sind in der Regel offen formuliert nach dem Muster „Wel­ches Wort benutzen sie für die letzte Mahlzeit am Tage?“. Die Antworten darauf (also etwa „Aben­dessen“, „Abendbrot“, „Nachtessen“ etc.) wurden in einer an das System der Zeitschrift „Teuthonista“ ange­lehnten Lautschrift an Ort und Stelle aufgezeichnet, das Ma­terial steht somit auch für lautbezoge­ne Analysen zur Verfügung. Insgesamt umfasst das Korpus Daten von 489 Informanten, davon 213 aus 61 Ober- und Mittelzentren (also „Städten“) und 273 aus 92 ländlichen Siedlungen, also „Dörfern“. Der Erhebungszeitrum konzentrierte sich auf die Mitte der 1980er Jahre beim Projekt WSAH und die Mitte der 1990er Jahre beim Projekt ALRH.

Kartierung: Das Kartierverfahren der Projekte WSAH und ALRH verfolgt das Ziel, die Mehrdimen­sionalität der Alltagssprache zwi­schen Basisdialekt und Standardsprache erkennbar zu machen. Die Grundkarten beider Projekte mit dem Maßstab 1:1 000 000 enthalten die jeweiligen Belegorte als Kreissymbol mit Namensnennung. Die sprachlichen Daten wer­den als schwarze Punktsymbole ortsge­treu ein­getragen, wobei ein Symbol ein unter lexikalischem Aspekt ver­einheitlichtes Lemma vertritt. (In der Regel wird die bei der Erhebung festgehaltene phonetische Varianz nicht symboli­siert.) Um die dem Datenmaterial innewohnende Wandeldynamik deutlich erkennen zu lassen, ist die Häufigkeit der Nen­nung eines Belegs am jeweiligen Ort an der Symbolgröße auszumachen. In der Kartenlegende wird zudem vermerkt, an wie vielen Orten und von welcher Prozentzahl der Informanten ein jewei­liges Lemma genannt wurde. Die Sym­bole selbst sind geordnet nach dem Prinzip: zahlenmäßig häufi­gere Belege erhalten einfachere geometrische Grundformen als seltenere, und seltenere Formen werden mit mehr Schwarz-Anteil wieder­gegeben als häufigere. Gleiche Lemmata sind in beiden Pro­jekten mit wenigen Ausnahmen mit gleichen oder ähnlichen Symbolen versehen. 60 Karten des Pro­jekts ALRH werden auf der parallel aufgeschlagenen linken Seite des Atlasbands durch nach den gleichen Prinzipien und mit gleichen Symbolen versehenen Vergleichskarten ergänzt, die aus dem Originalmaterial des dialekt­bezogenen DWA von ca. 1940 neu erarbeitet wurden.

Publikation: Die wesentlichen Ergebnisse des Projekts WSAH liegen vor 1. mit dem Atlasband „Wortgeographie der Städtischen Alltagssprache in Hessen“ (Friebertshäuser/Dingeldein 1988) und 2. dem dazu gehörenden Interpretationsband „Studien zur Wortgeographie der städtischen Alltags­sprache in Hessen“ (Dingeldein 1991). Der Atlasband enthält 122 Wortkarten und 46 weitere Karten, die laut­liche und morphologische Fragestellungen aus dem erhobenen Material exemplarisch thema­tisieren. Im Interpretationsband erfährt das Gesamtmaterial eine eingehende Analyse hinsichtlich sei­ner topischen, strati­schen und sprachhistorischen Dimensionen, wobei auch die lautliche Qualität der erhobenen lexikalischen Belege Berücksichtigung findet. Der Dokumentationsband des Projekts ALRH, der „Wortatlas zur Alltagssprache der ländlichen Räume Hessens“ (Dingeldein Hg. 2010) ent­hält 180 Wortkarten sowie 60 Vergleichskarten aus dem Erhebungsmaterial des DWA (s. o.); im einleitenden Teil wird die Nutzung der WSAH- und ALRH- Karten in Verbindung mit älteren areallexikographischen Materialien für das Erschließen des sprachlichen Umgestaltungs­prozesses der hessischen Sprachlandschaft an einem Beispiel exemplifiziert. Eine kontrastive Inter­pretation mehrerer weiterer Karten liegt in Aufsatzform vor (Dingeldein 2008).

4. Wissenschaftliche Resultate

Die drei Bände der Projekte WSAH und ALRH bilden gemeinsam mit dem Atlasband des Projekts HDZ (s. o.) die „Hes­sischen Sprachatlanten. Kleine Reihe“ (Francke Verlag, Tübingen). Mit ihr ist eine Dokumentation der sprachlichen Verhältnisse Hessens im ausgehenden 20. Jahrhundert entstan­den, deren Kern zwar wortgeographischer Natur ist, deren Erkenntnisgehalt aber über allein lexikali­sche Fragestel­lungen deutlich hinausweist. Das den Projekten zu Grunde liegende allgemeine For­schungsziel, den sprachlichen „Alltag“ Hessens exemplarisch zu erfassen, war von sechs konkreten Forschungs­fragen begleitet: 1. Ist das im Alltag gebrauchte mündliche Deutsch der in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsenen Generationen noch sprachlandschaftlich gegliedert? 2. Wenn ja, unterscheidet sich die Gliederung von älteren Gliederungsmustern? 3. Zielen die Entwicklungstendenzen des alltagssprachlichen Sprachgebrauchs brechungsfrei in Richtung Standardsprache? 4. Gibt es dialekt- bzw. standardsprachenahe und ‑ferne Regionen in Hessen? 5. Existieren am gleichen Ort bzw. in der gleichen Region unterschiedliche Varianten des mündlichen Deutsch nebeneinander? und 6. Sind städtischer und ländlicher Sprachgebrauch noch immer ein Gegensatzpaar? Die Analyse der Sprachdaten aus den Projekten WSAH und ALRH lassen folgende Aussagen zu: 1. Die hessische Sprachlandschaft weist – nicht nur auf den Wortschatz bezogen – weiterhin eine klare landschaftliche Gliederung auf. 2. Die modernen alltagssprachlichen Wortareale unterscheiden sich deutlich von den älteren Gliederungsmustern sowohl im Hinblick auf den Gel­tungsbereich wie die Anzahl der belegten Wörter. Letzteres sowohl in Bezug auf das ganze Land wie auf die einzelnen Belegorte. 3. Die Entwicklung in Richtung Standardsprache ist eindeutig, jedoch unterscheiden sich die Geschwindigkeiten der Anpassung: Im Norden geht der Prozess rasch voran, im Süden langsamer. 4. Hessens Süden ist gegenwärtig bezüglich des Lexikons und der Lautung noch als deutlich regionalsprachlich geprägt zu bezeichnen, Nordhessen hingegen als standardsprachenah. 5. In nahezu allen Belegorten werden standardsprachliche und regionalsprachliche – d. h. dialektale und „umgangssprachliche“ – Wörter nebeneinander verwendet, in nordhessischen Städten tendiert der regionalsprachliche Anteil jedoch gegen null. 6. Städtischer und ländlicher Sprachgebrauch sind kein Gegensatzpaar mehr, sie repräsentieren vielmehr unterschiedliche Entwicklungsstadien in die glei­che Richtung: Die Städte sind Vorreiter und Vorbild, die ländlichen Gebiete „urbanisieren“ sich mit einem gewissen Zeitverzug. Diese aus dem linguistischen Material erarbeiteten Einsichten harmo­nieren in hohem Grade mit den Ergebnissen des Projekts HDZ (Friebertshäuser/Dingeldein 1989), in dem Methoden der empirischen Sozialforschung angewendet wurden.

5. Exemplarische Karteninterpretation (WSAH- und ALRH-Karten 174 „Samstag“)

Für die Bezeichnung des letzten Tages vor dem Sonntag liegen mit den Materialien des DWA und der Projekte WSAH und ALRH für alle Belegorte Vergleichsmaterialien vor, mit deren Hilfe ein exempla­risches Abbild sprachlicher Entwicklungen über ca. fünf Jahrzehnte kontrastiv hergestellt werden kann. Ausgehend von der begründeten Hypothese, um das Jahr 1940 sei die Alltags­sprache in ganz Hessen noch primär dialektal geprägt gewesen und die Städte seien im Wandel­prozess Vorreiter, ergeben die miteinander verglichenen Karten des DWA und der Projekte WSAH und ALRH folgende Entwicklungsstufen: Ausgehend von den ländlichen Belegen des DWA zeigt sich Hessen um 1940 in Bezug auf den in Frage stehenden Begriff als klar zweigeteilt: Im Norden ist Sonnabend, im Süden Samstag (bzw. deren dialektale Varianten) das alleinig gebrauchte Wort; die Grenze verläuft in einem leichten Bogen mitten durch das Land südlich von Fulda, zwischen Marburg und Gießen und nördlich von Wetzlar. Bei den städtischen Belegen (die Karte ist hier nicht doku­men­tiert) sind schon in weiten Bereichen nördlich von Gießen Samstag-Belege neben die von Sonnabend getreten, oder sie haben sie sogar ersetzt. Selbst im weit im Norden gelegenen Kassel wird Samstag belegt. Fünfzig Jahre später stehen in den ländlichen Bereichen Nordhessens Sonnabend und Samstag nahezu gleichgewichtig nebeneinander (nach ALRH), in den Städten hingegen sind Sonn­abend-Belege nur noch vereinzelt vorzufinden (nach WSAH). (Weitere Beispiele für vergleichende Karten­analysen in Dingeldein 2008.)

6. Künftige Forschungsperspektiven

Mehrdimensionalität kennzeichnet die moderne Areallinguistik. Die Erschließung und Dokumentation der modernen sprachlichen Zustände unter sprachgeographischem und stratischem Aspekt sowie ihre Interpretation unter dem Blickwinkel einer sprachlichen Binnendynamik hat in den letzten Jahren – nicht zuletzt durch die Forschungsplattformen „Digitaler Wenker-Atlas (DiWA)“ (www.diwa.info) und „Regionalsprache.de (REDE).“ (www.regionalsprache.de) – erheblichen Auftrieb erfahren. Die hier vorgestellten, auf den Untersuchungsraum Hessen beschränkten Untersuchungen auf Wortebene haben gezeigt, dass im Bereich der Lexik ähnlich erhellende Einsichten zur Sprachdynamik gewonnen werden können wie auf phonetisch-phonologischer und morphologischer Untersuchungsebene. Es wäre sicherlich ein Gewinn, auch den DWA digital verfügbar zu haben und areallexikalische Quer­schnittuntersuchungen über die hier exemplifizierten regionalen Ansätze hinaus wirksam wer­den zu lassen.