von Klaas-Hinrich Ehlers und Hanna Fischer
Inhalt
1. Zitation
2. Einleitung
2.1 Zielsetzungen des Digitalen Niederdeutsch-Atlas für Mecklenburg-Vorpommern
2.2 Ältere Dialektkartografie des nordostniederdeutschen Raumes
3. Datengrundlage des DiNA, ihre Entstehungsgeschichte und ihre Struktur
3.1 Erhebungshintergrund
3.2 Aufnahmesituationen
3.3 Provenienz der Sprachaufnahmen und Erhebungsdokumente
3.4 Datenauswahl und -struktur des DiNA
3.5 Vergleichsdaten außerhalb des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern
3.6 Bewertung des Aufnahmekorpus
4. Datenbearbeitung
4.1 Sprachaufnahmen
4.2 Fester Text und Wörterbuchsätze
4.3 Wenker-Bögen
4.4 Spontansprachliche Aufnahmen
4.5 Schriftliche Übersetzungen
5. Variablenauswahl
5.1 Kriterien für die Auswahl der Variablen und der Belegkontexte
5.2 Berücksichtigte Sprachebenen
6. Ergebnispräsentation
6.1 Kartierung
6.2 Klingende Karten
6.3 Legende und weitere Karteninformationen
6.4 Quantitative Aufschlüsselung der Befunde
6.5 Kommentierung
7. Danksagung
8. Zitierte Literatur
9. Anhang
9.1 Fester Text
9.2 Wörterbuchsätze
1. Zitation
Ehlers, Klaas-Hinrich und Hanna Fischer (in Bearb.): Digitaler Niederdeutsch-Atlas für Mecklenburg-Vorpommern (DiNA). In: Schmidt, Jürgen Erich et al. (Hrsg.): Regionalsprache.de (REDE III). Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. 2020ff.
2. Einleitung
2.1 Zielsetzungen des Digitalen Niederdeutsch-Atlas für Mecklenburg-Vorpommern
Bis heute fehlt eine dialektgeografische Dokumentation, die die Sprachverhältnisse im gesamten mecklenburgisch-vorpommerschen Dialektgebiet umfasst und sich dabei auf eine breite und gegenwartsnahe Untersuchungsgrundlage stützt. Diese dialektologischen Wissenslücken will der „Digitale Niederdeutsch-Atlas für Mecklenburg-Vorpommern“ (DiNA-MV) schließen. Er kann auf breiter empirischer Datenbasis den letzten noch vollkommen ungesteuert tradierten Sprachstand des mecklenburgisch-vorpommerschen Niederdeutsch linguistisch dokumentieren. Grundlage sind umfangreiche Dialektaufnahmen aus den 1960er Jahren mit drei Altersgruppen von Proband:innen, deren Lebenszeit zum Teil bis in die Gegenwart hineinreicht. Der in diesen Aufnahmen dokumentierte gegenwartsnahe Sprachstand wird an ausgewählten Variablen in seiner räumlichen, seiner sprachhistorischen und in seiner situativen Varianz rekonstruiert. Die Sprachvariation wird anhand von ausgewählten Belegkontexten auf phonetisch / phonologischer (z. B. Vokalhebung vor r), morphologischer (z. B. nominaler s-Plural), lexikalischer (z. B. Schrank, wie), syntaktischer (z. B. Abfolge pronominalisierter Satzglieder) und pragmatischer Ebene (z. B. Grußformeln, tag-questions) untersucht. Wie im „Norddeutschen Sprachatlas“ Bd. 2 wird auch im DiNA das neue Aufnahmematerial mit den historischen Wenkerbögen aus der Region kontrastiert, um so die Entwicklungsdynamik des mecklenburgisch-vorpommerschen Dialekts bis in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückverfolgen zu können. Die lemmabezogene Kartierung der Befunde wird in den beigegebenen Kommentaren interpretiert und auch quantitativ aufgeschlüsselt.
Der DiNA wendet sich damit zum einen an die linguistische Fachwelt, die empirisch gesicherte Daten zur Entwicklungsdynamik, zur regionalen Strukturierung und zum situativen Gebrauch des Niederdeutschen benötigt, und zum anderen an die sprachinteressierten Bürgerinnen und Bürger des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, die genauere Informationen über den Dialekt ihrer Heimatregion suchen. Eine dritte Zielgruppe bilden Personen, die sich aktuell für die Didaktik und die Vermittlung des Niederdeutschen als Fremdsprache engagieren. Sie können im DiNA einerseits eine empirische Grundlage finden, an der sich die zukünftige Korpusplanung für eine „Lehrvarietät Niederdeutsch in Mecklenburg-Vorpommern“ orientieren kann. Andererseits kann das Kartenwerk des DiNA als didaktisches Anschauungs- und Projektmaterial unmittelbar in den außerschulischen, schulischen oder universitären Niederdeutschunterricht einbezogen werden (vgl. Ehlers 2025). Den Kartenkommentaren sind zum Teil didaktische Hinweise beigegeben, mit denen die Lernenden für räumliche Besonderheiten in der niederdeutschen Dialektlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns sensibilisiert oder zur Reflexion über die Geschichte des Niederdeutschen angeregt werden können.
Der DiNA wird ausschließlich digital in der REDE-Plattform publiziert (https://regionalsprache.de). Dies ermöglicht ein schnelles und kostengünstiges Erscheinen, eine Verlinkung seiner Befunde mit anderen regionalsprachlichen Daten und vor allem eine leichte Zugänglichkeit seiner Ergebnisse für die Fachwelt, die Öffentlichkeit und für den Bildungssektor.
2.2 Ältere Dialektkartografie des nordostniederdeutschen Raumes
Der DiNA kann mit seinen Zielsetzungen und seiner breiten empirischen Grundlage Forschungsdesiderate einlösen, die die vorliegende Dialektgeografie der nordostniederdeutschen Region nur unzureichend klären konnte. Georg Wenkers „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ ist bis in die Gegenwart die detailreichste Informationsquelle zur Dialektgeografie der Sprachlandschaft im Raum des heutigen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Wenkers handgezeichneten Karten zur regionalen Verteilung verschiedener Dialektmerkmale der Laut-, der Morphem- und der Wortebene gehen auf eine umfangreiche Fragebogenerhebung in den Jahren um 1880 zurück. Hierbei wurden die Lehrer der Grundschulen des Deutschen Reiches gebeten, gemeinsam mit ihren Schüler:innen 40 hochdeutsche Sätze – die später so genannten Wenker-Sätze – in den jeweiligen Ortsdialekt zu übersetzen. Seit ihrer Digitalisierung sind nicht nur die 1668 Karten von Wenkers Sprachatlas, sondern auch die ca. 45.000 Originalbögen der damaligen Erhebung im Internet leicht zugänglich (vgl. Wenkerbogen-App). Wenkers Karten waren über ein Jahrhundert lang die empirische Grundlage für die dialektgeografischen Darstellungen auch der Sprachlandschaft in der Region Mecklenburg-Vorpommern (z. B. Wiesinger 1983, König / Elspaß / Möller 2015). So wertvoll die dichten Befunde Wenkers und seiner Mitarbeiter bis heute sind, beziehen sie sich doch auf einen Sprachstand, der fast einhundertfünfzig Jahre zurückliegt.
Nach dem Vorbild von Georg Wenkers Sprachatlas entstand einige Jahrzehnte später, wiederum auf der Grundlage einer umfangreichen schriftlichen Befragung der „Deutsche Wortatlas“ (Mitzka / Schmitt 1951–1980). Der „Deutsche Wortatlas“ dokumentiert am Beispiel von 188 Wörtern und zwölf Sätzen, die von den Befragten in den jeweiligen Ortsdialekt zu übersetzen waren, den Variantenreichtum des dialektalen Wortschatzes im damaligen Deutschen Reich. Der Atlas beruht auf der Auswertung von über 50.000 Fragebögen, die in den Jahren 1939 bis 1942 an die Schulorte des Landes versandt worden waren. Mit dieser sehr dichten Untersuchungsgrundlage kann der Wortatlas auch für den Raum Mecklenburg-Vorpommern einen differenzierten Einblick in die regionale Dialektgeografie vermitteln. Allerdings fokussiert dieses Bild nahezu ausschließlich den Wortschatz und legt darin den Schwerpunkt auf Tier- und Pflanzenbezeichnungen und die agrarische Lebenswelt. Gegenüber dem Sprachatlas von Wenker begrenzt sich Mitzkas Wortatlas also auf einen deutlich engeren Gegenstandsbereich. Und auch dieser Atlas bezieht sich auf einen Sprachstand, der in einer ferneren Vergangenheit liegt. Für Mecklenburg-Vorpommern kann er lediglich über einen ausgewählten Dialektwortschatz informieren, der vor über 80 Jahren in der Region in Gebrauch war.
Erst in der jüngsten Vergangenheit ist mit dem zweiten Band des „Norddeutschen Sprachatlas“ (NOSA 2) eine aktuelle empirische Dokumentation der niederdeutschen Dialektregionen im gesamten norddeutschen Raum der Bundesrepublik erarbeitet worden (Elmentaler / Rosenberg 2022). Auf der Basis direkter Befragungen in den Jahren 2008 bis 2010 dokumentiert der NOSA 2 die regionale Verteilung der Dialektvarianten von 21 lautlichen und vier morphologischen Variablen auch im Raum Mecklenburg-Vorpommern. Die mehrdimensionalen Karten des NOSA zeigen neben der räumlichen Gliederung der niederdeutschen Dialekte auch deren situative Varianz in zwei Erhebungssituationen mit unterschiedlichem Formalitätsgrad. Die Karten beziehen außerdem die Befunde der historischen Wenker-Erhebung mit ein und eröffnen so den Blick auf diachronische Veränderungen des Dialekts. Der NOSA geht nicht nur mit seiner in direkter Befragung erhobenen Datenbasis, sondern auch mit seiner variationslinguistischen Anlage und seiner ausführlichen sprachwissenschaftlichen Kommentierung über den Wenker-Atlas hinaus. Wie der historische Wenker-Atlas und der Wortatlas ermöglicht der „Norddeutsche Sprachatlas“ es, die dialektalen Befunde des mecklenburgisch-vorpommerschen Raumes in den Gesamtzusammenhang aller niederdeutschen Dialekte einzubetten. Allerdings konnte der „Norddeutsche Sprachatlas“, eben weil er die Sprachverhältnisse in der gesamten niederdeutsche Dialektlandschaft von der polnischen bis zur niederländischen Grenze erfasst, in Mecklenburg-Vorpommern nur an vier Orten mit jeweils vier Frauen mittleren Alters Sprachaufnahmen durchführen. Ohne das große Verdienst und Innovationspotential des „Norddeutschen Sprachatlas“ schmälern zu wollen, muss doch festgehalten werden, dass seine Dialektkartierung für Mecklenburg-Vorpommern nur auf einer recht dünnen Datenbasis beruht.
Im Jahr 2013 erschien der von Renate Herrmann-Winter erstellte „Sprachatlas für Rügen und die vorpommersche Küste“ (Herrmann-Winter 2013). Dieser Atlas präsentiert auf 31 kurz kommentierten Karten wortgeografische Gliederungen seines Untersuchungsgebietes. Hinzu kommen 19 Lautkarten, die wie einige der Wortkarten den regionalen Dialektwandel dokumentieren. Die Dokumentation diachronischer Prozesse ist möglich, weil der Atlas bei einigen Merkmalen ein Materialkorpus aus drei verschiedenen Zeitstufen – aus dem 19. Jahrhundert, aus den 1960er Jahren und aus dem Jahr 2006 – vergleichend einbezieht. Die Sprachdaten sind in einem engen Ortsnetz mittels Fragebogenerhebungen und Tonaufnahmen gesammelt worden. In seinem Untersuchungsgebiet ist die Datenbasis dieses Atlas in räumlicher und zeitlicher Dimension also sehr kompakt. Allerdings erfasst der Atlas ausschließlich die Dialektverhältnisse auf der Insel Rügen und im küstennahen Vorpommern nördlich der Peene. Und er legt wie der Wortatlas Mitzkas einen Schwerpunkt auf dialektalen Wortschatz aus der agrarischen Lebenswelt. Ein Gesamtbild des mecklenburgisch-vorpommerschen Niederdeutsch kann und will Herrmann-Winters Atlas nicht bieten.
Die vorliegenden dialektgeografischen Publikationen, die auch den Raum Mecklenburg-Vorpommern umfassen, erscheinen angesichts der geschilderten Forschungslage aus unterschiedlichen Gründen ergänzungsbedürftig. Die vorliegenden Publikationen sind in ihrem thematischen oder ihrem regionalen Fokus begrenzt, sie beschreiben weit zurückliegende Zeitstufen oder sie beruhen auf einer dünnen Datengrundlage. Hier kann der DiNA wichtige Erkenntnisfortschritte erbringen.
3. Datengrundlage des DiNA, ihre Entstehungsgeschichte und ihre Struktur
3.1 Erhebungshintergrund
Der digitale Niederdeutsch-Atlas kann sich auf ein umfangreiches Datenkorpus stützen, das bis heute nur punktuell von der Sprachwissenschaft ausgewertet worden ist. Es soll kurz auf die Geschichte und die Struktur dieses Korpus eingegangen werden: Ab 1954 hatte Eberhard Zwirner in der alten Bundesrepublik finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft in großem Umfang mit flächendeckenden Dialektaufnahmen begonnen. Um ein dichtes und gleichmäßig strukturiertes Netz von Erhebungsorten zu gewährleisten, unterteilte Zwirner die deutsche Sprachlandschaft in Planquadrate von 16 km Kantenlänge. In jedem Planquadrat sollten an jeweils einem Ort Sprachaufnahmen mit mehreren Sprecherinnen und Sprechern gemacht werden. Zwirner hatte sein ehrgeiziges Unternehmen dabei zunächst als gesamtdeutsches Projekt ausgelegt und hatte mit der Ostberliner Akademie der Wissenschaften auch schon entsprechende Kooperationsvereinbarungen vorbereitet. Dann entschied sich die Berliner Akademie aber, das Projekt mit leicht veränderter Konzeption in die eigenen Hände zu nehmen (Ehlers 2015, Ehlers 2022a).
In der DDR begannen die entsprechenden Dialektaufnahmen im Herbst 1960 in Thüringen. Durchgeführt wurden sie mit tontechnischer Unterstützung aus Berlin von den Mitarbeiter:innen der verschiedenen regionalen Dialektwörterbuchstellen. 1964 waren die Aufnahmen abgeschlossen, man hatte auf der gesamten Fläche des Landes in Dörfern, die durchschnittlich 18 Kilometer voneinander entfernt liegen, Dialektaufzeichnungen gemacht. Insgesamt sind in der DDR 1572 Dialektsprecherinnen und -sprecher aufgenommen worden. Auf dieses Weise ist ein einmalig großes Sprachkorpus entstanden, das die gesamte Dialektlandschaft der ehemaligen DDR mit dichten Stichproben abzubilden vermag.
In Mecklenburg-Vorpommern wurden die Tonaufnahmen ebenfalls mit technischer Unterstützung aus Berlin von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des „Mecklenburgischen Wörterbuchs und des Pommerschen Wörterbuchs“ durchgeführt. Diese suchten in jedem der schon von Zwirner vorgegebenen Planquadrate ein Dorf auf und führten dort jeweils mit mindestens drei, häufig auch mit mehr Einwohner:innen Dialektaufnahmen durch. Insgesamt wurden in Mecklenburg-Vorpommern Aufnahmen mit 420 Personen aufgezeichnet. Bei der Auswahl der Proband:innen konzentrierte man sich auf Angehörige bodenständiger Berufe wie Bauern, Fischer oder Handwerker, denn die Zielvarietät der Untersuchung war jeweils der örtliche Basisdialekt. Pro Ort sollten drei Altersgruppen in der Stichprobe repräsentiert sein, um im Vergleich der Redeweise dieser Altersgruppen Sprachentwicklungsprozesse in apparent time dokumentieren zu können.
3.2 Aufnahmesituationen
All diese Personen wurden gebeten, eine hochdeutsche Textvorlage, den sogenannten „Festen Text“ (vgl. Anhang 1), schriftlich in das örtliche Niederdeutsch zu übersetzen und diese Übersetzung dann vor dem Mikrofon vorzulesen. Diese Übersetzungsvorlage umfasst 30 hochdeutsche Sätze, die im verwendeten Wortmaterial viele Übereinstimmungen mit den historischen Wenker-Sätzen haben. Während Wenker seinen Probanden seinerzeit aber isolierte Einzelsätze zur Übertragung in den Dialekt vorlegte, fingiert der Feste Text der 1960er Jahre zusammenhängende Gesprächszüge einer Konversation unter Nachbarn. Die Wörterbuchstellen in Rostock und Greifswald konnten zusätzlich – wiederum mit hochdeutschen Übersetzungsvorlagen – gezielt dialektalen Wortschatz erheben, der für ihre Untersuchungsregion wortgeografisch interessant war (vgl. Anhang 2). Bei diesen sogenannten „Wörterbuchsätzen“, die regional zum Teil in unterschiedlichen Versionen eingesetzt wurden, handelt es sich um eine Zusammenstellung von neun bis 13 hochdeutschen Sätzen, mit denen insbesondere Dialektwortschatz aus der ländlichen Lebenswelt elizitiert werden sollte. Während mit dieser Erhebungsmethode der Dialektübersetzung ein stark selbstkontrolliertes und normorientiertes Niederdeutsch aufgenommen wurde, schloss sich als dritter Erhebungsteil ein auf Niederdeutsch geführtes Interview von etwa 10 bis 20 Minuten Länge an, in dem die Proband:innen spontansprachlich im Dialekt agierten. Gelegentlich wurden hier auch freie Erzählungen im Niederdeutschen aufgezeichnet (vgl. Schädlich / Große 1961, Gundlach 1967).
3.3 Provenienz der Sprachaufnahmen und Erhebungsdokumente
Trotz des großen finanziellen und personellen Aufwandes dieser Dialekterhebung sind deren Ergebnisse bis heute nicht umfassend ausgewertet worden. Dies liegt einerseits an wissenschaftspolitischen Gründen in der DDR (vgl. Ehlers 2023), aber nicht zuletzt auch daran, dass die Aufnahmen bis zum Beginn der Arbeiten am DiNA nicht transkribiert vorlagen. Immerhin sind die wertvollen Magnettonbänder durch ihre Digitalisierung vor dem Verfall bewahrt worden. Am Anfang der 1990er Jahre sind die an der Berliner Akademie überlieferten Bänder vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) digitalisiert worden und seither im Internet als Audiodateien zugänglich (Korpus „DR Deutsche Mundarten: DDR“). Kopien der Magnettonbänder lagen außerdem an den Universitäten Rostock und Greifswald sowie am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg. An diesen Standorten ist das Tonmaterial unabhängig voneinander und zu verschiedenen Zeiten ebenfalls digitalisiert worden. Für den Sprachraum Mecklenburg-Vorpommern ist auf diese Weise eine digitale Mehrfachüberlieferung des Korpus entstanden, die die zentrale Grundlage unseres Atlas ist. Die Tonaufnahmen aus den frühen 1960er Jahren werden im „Digitalen Niederdeutsch-Atlas“ ergänzt um die historischen Wenker-Bögen der mecklenburgisch-vorpommerschen Untersuchungsorte. Auch die schriftlichen Übersetzungen des Festen Textes, die für Mecklenburg im Wossidlo-Archiv der Universität Rostock erhalten sind, werden hinzugezogen.
3.4 Datenauswahl und -struktur des DiNA
Wir haben das überlieferte Aufnahmekorpus aus Mecklenburg-Vorpommern für die Zwecke unseres Atlas vereinheitlicht und eingegrenzt. Da der Fokus in einem regionalen Sprachatlas auf der möglichst genauen Erfassung räumlicher Differenzierungen innerhalb der Dialektlandschaft liegt, wurde die Stichprobe in einem ersten Schritt auf möglichst ortsfeste Personen begrenzt. Als ortsfest wurden dabei alle Personen gewertet, von denen mindestens ein Elternteil im Planquadrat des Erhebungsortes geboren wurde. Sofern das Aufnahmekorpus Auswahlmöglichkeiten zuließ, wurden Proband:innen bevorzugt ausgewählt, von denen ein oder idealerweise beide Elternteile im Erhebungsort geboren wurden. Sodann haben wir uns aus arbeitsökonomischen Gründen entschieden, die Stichprobe in drei Altersgruppen zu gliedern und die Auswertung jeweils auf nur eine Person aus jeder Alterskohorte am Ort zu beschränken. Mit diesen beiden Eingrenzungen verkleinerte sich die Stichprobe des DiNA auf 245 Personen aus 98 Untersuchungsorten in Mecklenburg-Vorpommern. Unsere Stichprobe erfasst im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern 83 Personen aus den Geburtsjahrgängen 1880 bis 1904, 78 Personen aus den Geburtsjahrgängen 1905 bis 1925 und 84 Personen aus den Geburtsjahrgängen 1926 bis 1948. Die Stichprobe ist demnach im Hinblick auf die Altersgruppen sehr kontinuierlich strukturiert.
3.5 Vergleichsdaten außerhalb des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern
Auch wenn ein regionaler Sprachatlas vor allem an der sprachlichen Binnengliederung des betreffenden Sprachraumes interessiert ist, wird im DiNA auch die dialektale Außenabgrenzung in den Blick genommen. Wir haben die 98 Untersuchungsorte aus Mecklenburg-Vorpommern deshalb um 19 Ortschaften ergänzt, die das Untersuchungsgebiet nach Süden und Westen stichprobenartig erweitern. So konnten wir insgesamt 29 Personen aus den mittelpommerschen, nordmärkischen und nordniedersächsischen Dialektgebieten in die Untersuchung einbeziehen. Das Korpus unseres Atlas umfasst demnach Sprachaufnahmen von insgesamt 274 Gewährspersonen.
Für das nördliche Brandenburg konnte auf das Korpus „DR Mundarten DDR“ zurückgegriffen werden, das in der Datenbank für gesprochenes Deutsch des „Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS)“ im Internet zugänglich ist (https://dgd.ids-mannheim.de/, Korpus „DR Deutsche Mundarten: DDR“). In der Datenbank für gesprochenes Deutsch sind zudem die Tonaufnahmen des „Zwirner-Korpus“ überliefert, die in den 1950er und 1960er Jahren unter der Leitung von Eberhard Zwirner in der alten Bundesrepublik aufgezeichnet wurden. In diesem Korpus sind mitunter auch mündliche Übersetzungen der historischen Wenker-Sätze enthalten. Da sich diese Sätze zum Teil in Wortmaterial und Syntax mit dem Festen Text der DDR-Erhebung überschneiden, können sie in vielerlei Hinsicht als Parallelüberlieferung und Vergleichsfolie zu den DDR-Aufnahmen herangezogen werden. Allerdings sind im Zwirner-Projekt, das sich hauptsächlich auf spontansprachliche Daten fokussierte, nur sehr sporadisch auch Übersetzungstests einbezogen worden (vgl. Ehlers 2022a). Bei der Auswahl von Vergleichsorten im niedersächsischen und schleswig-holsteinischen Sprachraum waren wir daher auf einige wenige und leider recht breit gestreute Erhebungsorte des Zwirner-Korpus angewiesen, die sich in einem weiteren Grenzsaum zu Mecklenburg-Vorpommern finden lassen.
3.6 Bewertung des Aufnahmekorpus
Das DDR-Aufnahmekorpus der frühen 1960er Jahre ist aus den folgenden Gründen auch für moderne Analyse-Zugänge immer noch attraktiv:
1. Das Korpus ist – auch im Vergleich mit allen neueren Erhebungen zum Raum Mecklenburg-Vorpommern – sehr groß. Daher ermöglicht es grundsätzlich quantitative und korpuslinguistische Zugänge, sofern Transkriptionen vorgenommen werden.
2. Die Tonbänder sind mit dem seinerzeit höchsten technischen Standard aufgezeichnet worden. Sie sind damit auch heute noch fast durchgängig für phonetische Analysen geeignet.
3. Das Korpus ist weitestgehend mit einheitlicher Erhebungsmethodik zusammengestellt worden, das heißt, es eröffnet in seinem großen Datenvolumen vielfältige verlässliche Vergleichsperspektiven. Die Aufnahmen sind zwar grundsätzlich auf die standardfernsten Sprachlagen ausgerichtet, dort aber dokumentieren sie durch die verschiedenen Erhebungssituationen doch einige der wesentlichen Dimensionen der Sprachvariation.
4. Für einen Sprachatlas von größter Bedeutung ist das enge und flächendeckende Netz dicht beieinander liegender Aufnahmeorte, auf dessen Grundlage sich die Sprachvariation im Raum mit großer Präzision rekonstruieren lässt.
5. Da von jeder Gewährsperson ein bis zwei Übersetzungstests (Fester Text und gegebenenfalls Wörterbuchsätze) und zusätzlich ein Interview aufgezeichnet wurden, erfassen die Aufnahmen zwei Pole der situativen Varianz im Niederdeutsch der Proband:innen (intendiertes und spontansprachliches Niederdeutsch).
6. Die Gegenüberstellung von Gewährspersonen aus drei Altersgruppen erlaubt Schlüsse auf die Dynamik und die Richtung der seinerzeit aktuellen Sprachentwicklung, die sich in apparent time in den Unterschieden der niederdeutschen Redeweise der drei Sprechergenerationen am Ort niederschlägt.
Mit seinem außergewöhnlich großen Datenvolumen, seiner räumlichen Dichte und variativen Differenziertheit bietet das Aufnahmekorpus der frühen 1960er Jahre eine tiefenscharfe Momentaufnahme aus der Entwicklung des Niederdeutschen im Rahmen der Geschichte der norddeutschen Regionalsprache des 20. Jahrhunderts. Die älteste Gewährsperson unserer Stichprobe wurde 1880, also etwa zur Zeit der Fragebogenerhebung Georg Wenkers, geboren. Die jüngsten Gewährspersonen wurden 1948 geboren. Alle Gewährspersonen wurden vor den 1960er Jahren sprachlich sozialisiert, bevor die familiäre Tradierung des Dialekts in Mecklenburg-Vorpommern weitestgehend abriss und allmählich eine Phase gesteuerter Sprachvermittlung einsetzte (Ehlers 2022b: Kapitel 3). Alle Gewährsleute unserer Stichprobe haben das Niederdeutsche dagegen noch ungesteuert in ihrem alltäglichen Sprachumfeld erworben und zur Aufnahmezeit noch ganz selbstverständlich als Kommunikationsmedium im Alltag genutzt. Das Niederdeutsch der am Anfang der 1960er Jahre aufgenommenen Personen repräsentiert also die letzten in spontaner Tradierung erreichten Entwicklungsstufen des regionalen Niederdeutsch für eine Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Da die Lebenspannen der jüngeren in den 1960er Jahren aufgenommenen Proband:innen bis in die Gegenwart hineinreichen, kann das Korpus in der jüngsten Altersgruppe die Niederdeutschkompetenz von aktuell noch lebenden Dialektsprecherinnen und Sprechern dokumentieren, die das Niederdeutsche noch in im frühkindlichen Spracherwerb gelernt haben. Damit sind die Aufnahmen der 1960er Jahre auch für eine Niederdeutschvermittlung, die sich bemüht, der Sprachrealität dialektkompetenter Personen in der Region möglichst gerecht zu werden, eine ideale Orientierungsgrundlage.
4. Datenbearbeitung
4.1 Sprachaufnahmen
Die digitalisierten Tonaufnahmen aus den Rostocker, Greifswalder und Marburger Beständen wurden zunächst für alle Proband:innen aus der Stichprobe in die drei verschiedenen Aufnahmesituationen (Fester Text, Wörterbuchsätze, Interviews) geschnitten. In einem weiteren Arbeitsgang wurden die Übersetzungen des Festen Textes dann satzweise in Audiosnippets segmentiert, die in den klingenden Karten des DiNA aufgerufen werden können.
4.2 Fester Text und Wörterbuchsätze
Für die variablenanalytische Auswertung der Aufnahmen des intendierten Niederdeutsch wurden die entsprechenden Belegkontexte in den Festen Texten bzw. in den Wörterbuchsätzen abgehört und in einer Exeltabelle für alle Proband:innen der Stichprobe zum einen in IPA-Transkription zum anderen in literarischer Transkription übertragen. Zur Qualitätssicherung dieser auditiven Auswertung haben die Transkriptionen jeweils zwei Personen unabhängig voneinander umgesetzt und ihre Versionen anschließend abgeglichen. Das Ergebnis dieser doppelten Auswertung wurde von der Projektleitung überprüft. In einem weiteren Arbeitsgang wurden die bei der Auswertung transkribierten Varianten nach linguistischen Gesichtspunkten typisiert. Diese Variantentypen waren dann Grundlage der quantitativen Auswertung der Befunde und der Erstellung der Dialektkarten.
4.3 Wenker-Bögen
Um das Datenkorpus des DiNA in seiner sprachhistorischen Beobachtungstiefe zu erweitern, wurden zusätzlich zu den Tonaufnahmen der 1960er Jahre die digitalisierten Fragebögen aus der Erhebung Georg Wenkers aus den Jahren um 1880 hinzugezogen. Hierzu wurden zu jedem Ort aus dem Ortsnetz des DiNA in der „Wenkerbogen-App“ der historische Bogen mit der schriftlichen Dialektübersetzung der hochdeutschen Wenker-Sätze aufgesucht und die meist in Kurrentschrift verfassten Bögen in lateinische Maschinenschrift transliteriert. Um die Qualität dieser Transliteration zu gewährleisten, übernahmen jeweils zwei Personen die Aufgabe, die oft schwierig entzifferbaren handschriftlichen Wenker-Bögen in eine moderne Textfassung umzusetzen. Diese beiden Personen glichen ihre Textfassungen miteinander ab und legten verbliebende Zweifelsfälle der Projektleitung zur Beurteilung vor. Soweit es in den historischen Wenker-Bögen vergleichbare Belegkontexte wie im Festen Text gab, wurden diese dann in die Auswertung einbezogen.
4.4 Spontansprachliche Aufnahmen
Die in den 1960er Jahren geführten Interviews und aufgezeichneten freien Erzählungen ermöglichen es, neben dem intendierten Niederdeutsch der Übersetzungen aus dem Hochdeutschen auch spontansprachliches Niederdeutsch in die Auswertung einzubeziehen. Vor ihrer Auswertung mussten diese Sprachdokumente zunächst transkribiert und übersetzt werden. Um den enormen Aufwand dieser Arbeit auf ein handhabbares Maß zu beschränken, wurden die folgenden Einschränkungen vorgenommen:
- Altersgruppe: Transkribiert wurden nur Interviews und Erzählungen von Angehörigen der jüngsten Altersgruppe unserer Stichprobe. Die spontansprachlichen Aufnahmen dieser Altersgruppe, deren Lebensspanne bis in die Gegenwart reicht, erscheint am besten geeignet, den aktuellen Entwicklungsstand des mecklenburgisch-vorpommerschen Niederdeutsch von Personen zu dokumentieren, die den Dialekt noch ungesteuert erworben haben.
- Umfang: Aus diesen Interviews wurden in einem ersten Schritt jeweils 550 Wörter transkribiert. Eine spätere Erweiterung der Transkriptionen auf bis zu je 1500 Wörter ist nach Maßgabe der finanziellen und zeitlichen Ressourcen geplant.
- Orte: Schließlich wurde die Zahl der Untersuchungsorte halbiert, aus denen Interviews transkribiert wurden. Die Auswahl dieser Orte wurde so getroffen, dass die Sprachlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns von einem annähernd gleichmäßig verteilten Ortsnetz abgedeckt wird.
Die Transkription der Interviews und freien Erzählungen erfolgte im Partitureditor des Exmaralda-Programms, das es ermöglicht, sowohl den Sprecherwechsel in den Interviews zu dokumentieren als auch Transkription, Übersetzung, Kommentierung und linguistische Annotierung in den Partitur-Tiers synoptisch zu erfassen. In einem ersten Arbeitsgang wurden die Aufnahmen literarisch, also unter Verwendung der Standardorthografie realisierungsnahe niederdeutsch verschriftlicht. Es folgte eine wortweise segmentierte hochdeutsche Übersetzung des niederdeutschen Rohtranskripts. Die mit der Tonspur alignierte hochdeutsche Übersetzung ist die Basis für die Variablenanalyse der spontansprachlich dialektalen Äußerungen unserer Gewährspersonen. Auf phonetische, morphologische, syntaktische, lexikalische und pragmatische Belegkontexte, die für die Analyse des Niederdeutschen von Interesse sind, kann mit den verfügbaren Suchroutinen indirekt über die wortweise hochdeutsche Übersetzung in der Audiospur zugegriffen und die betreffenden niederdeutschen Äquivalente abgehört werden. Zusätzlich bietet die niederdeutsche Transkription die Möglichkeit, linguistische Spezifika des Niederdeutschen zu ermitteln, die über die wortweise segmentierte hochdeutsche Übersetzung nicht ohne weiteres zu erschließen sind. Zur Qualitätssicherung werden Transkription und Übersetzung von einer zweiten niederdeutschkompetenten Person überprüft und der Projektleitung zur Beurteilung vorgelegt.
4.5 Schriftliche Übersetzungen
Zu einem späteren Zeitpunkt können auch die schriftlichen Übersetzungen des Festen Textes, die für den mecklenburgischen Landesteil aus den 1960er Jahren in großer Zahl archivalisch überliefert sind, in das DiNA-Korpus einbezogen werden. Diese größtenteils handschriftlichen Übersetzungen sollen digitalisiert und transliteriert werden. Für den vorpommerschen Landesteil scheinen die schriftlichen Übersetzungen des Festen Textes leider nicht überliefert zu sein.
5. Variablenauswahl
5.1 Kriterien für die Auswahl der Variablen und der Belegkontexte
Als Variablen, die im „Digitalen Niederdeutsch-Atlas“ präsentiert werden, wurden vor allem solche ausgewählt, bei denen nach der einschlägigen Fachliteratur areale, diachronische oder situative Varianz zu erwarten war. Es wurden aber auch einige Variablen einbezogen, die innerhalb der mecklenburgisch-vorpommerschen Dialektlandschaft großräumig einheitlich auftreten, aber eine horizontale Abgrenzung dieses Sprachgebietes gegenüber benachbarten Dialektregionen veranschaulichen können. Beim Abhören der Tonaufnahmen sind zudem immer wieder sprachliche Merkmale aufgefallen, die in der dialektologischen Fachliteratur zur Region bislang noch nicht systematisch beschrieben wurden, obwohl sie im Korpus häufiger realisiert werden. Beispiele für diese erstmalig im DiNA gezeigten Variablen sind etwa die zweisilbige Realisierung von Langvokalen mit Schwa-Epenthese (Schwi.en ‘Schwein‘) oder die Genusvarianz bei Bein (Neutrum versus Maskulinum). Hier kann der DiNA also ganz neue Gesichtspunkte in die Erforschung des regionalen Niederdeutsch einbringen.
Voraussetzung für die Auswahl der sprachlichen Variablen war außerdem, dass die Varianten im Belegkontext ohrenphonetisch gut zu diskriminieren sind. Dies ist im Bereich der Lautlichkeit in der Regel bei Differenzierungen im Konsonantismus der Fall, während die auditive Auswertung bei vokalischen Varianten häufiger auf Schwierigkeiten stößt. Einige Variablen, die zunächst probehalber abgehört und transkribiert worden waren, sind aus der Auswertung ausgeschlossen worden, wenn sich herausstellte, dass die Variantenvielfalt ohrenphonetisch nicht zweifelsfrei zu differenzieren war (z. B. der phonetische Unterschied zwischen als und as).
Ausgangspunkt für die Variablenauswahl waren zunächst die Übersetzungen des Festen Textes, die mit ihrem einheitlichen Bezug auf die standardisierte Vorlage sehr schnell überindividuelle Varianzphänomene erkennen lassen. Die Analysen des Festen Textes standen im Arbeitsprozess der Korpusauswertung deshalb am Anfang. Um die Kontextdetermination der Varianz erfassen zu können, wurden innerhalb des Festen Textes wo möglich mehrere verschiedene Belegkontexte für ein linguistisches Thema aufgesucht und vergleichend ausgewertet. So wurde beispielsweise die Realisierung des s im Wortanlaut oder Silbenanlaut im Zusammenhang mit verschiedenen Folgekonsonanten überprüft. Beleglexeme waren hier schliefen, Schnee, bestellt, spät und Schwester.
Dort, wo sich die Gewährspersonen bei ihren Übersetzungen selbst korrigierten oder zu Reformulierungen ansetzten, wurde für die variablenanalytische Auswertung die letzte Realisierung des jeweiligen Belegkontextes im Übersetzungsverlauf zugrunde gelegt. Wenn sich für eine Variable kein Belegkontext im Festen Text finden ließ, wurden auch die Übersetzungen der Wörterbuchsätze herangezogen. Diese haben allerdings den Nachteil, dass sie nur in Teilregionen Mecklenburg-Vorpommerns erhoben wurden und sich deshalb auf dieser Basis keine umfassende Kartenbilder erzielen lassen. Die am Festen Text ausgewählten Variablen wurden auch in entsprechenden Belegkontexten in den historischen Wenker-Bögen aufgesucht. Im weiteren Arbeitsverlauf werden zudem die spontansprachlichen Belegkontexte aus den Interviews einbezogen und die dort auftretenden Varianten in ihrer relativen Gebrauchsfrequenz untersucht. Für die Transkription und Auswertung der Interviews konnten nur die in Rostock, Greifswald oder Marburg überlieferten Digitalisate zu Mecklenburg-Vorpommern zugrunde gelegt werden. Die Analyse des spontansprachlichen Niederdeutsch der jüngsten Altersgruppe der Stichprobe beschränkt sich daher ausschließlich auf den Raum dieses Bundeslandes, angrenzende Dialektregionen werden im Fall des spontansprachlichen Datenmaterials nicht einbezogen.
5.2 Berücksichtigte Sprachebenen
Um ein möglichst komplexes Bild von der regionalen Verteilung und diachronischen Dynamik des mecklenburgisch-vorpommerschen Niederdeutsch zu rekonstruieren, legt der DiNA Wert darauf, Befunde von allen Sprachebenen dieses Dialekts zu präsentieren. Es werden also ausgewählte Varianzphänomene aus dem Bereich der dialektalen Phonetik/Phonologie, der Morphologie, der Syntax und der Lexik kartiert. Vereinzelt können außerdem Variablen aus dem Bereich der dialektalen Pragmatik wie Grußformeln, Abtönungspartikeln oder tag-questions in die Untersuchung einbezogen werden. Hier erwies sich als ein großer Vorzug des Festen Textes, dass er anders als die Übersetzungsvorlagen älterer dialektgeografischer Erhebungen nicht nur isolierte Wörter oder Sätze vorgibt, sondern ein Nachbarschaftsgespräch fingiert, in dem die konversationelle Dimension wenigstens ansatzweise abgebildet ist. Mit der Einbeziehung der spontansprachlichen Dialektäußerungen in den Interviews eröffnen sich für den DiNA weitere Beobachtungsfelder für die niederdeutsche Dialektpragmatik. Im Bereich des Dialektwortschatzes verzichtet der DiNA auf eine Dokumentation des agrarischen Spezialwortschatzes, auf den ältere Sprachatlanten aus volkskundlichem Interesse oft ein Schwergewicht gelegt hatten. Stattdessen wurde solche Lexeme bevorzugt, die auch für einen modernen Alltagswortschatz im Niederdeutschen noch Relevanz haben oder so hochfrequent auftreten, dass zu erwarten war, dass sie nicht nur in den Festen Texten, sondern auch in den Interviews und Erzählungen verwendet werden. Hier liegt also neben einigen verbreiteten nominalen und verbalen Lexemen (Schrank, Schlachter) ein zusätzlicher Fokus auf Adverbien und Funktionswörter (z. B. spät, schon, sich, wie), die frühere dialekt- und wortgeografische Untersuchungen zu Mecklenburg-Vorpommern meist gar nicht erfasst haben.
6. Ergebnispräsentation
6.1 Kartierung
Die Ergebnisse der Variablenanalyse werden in mehrdimensionalen Punktsymbolkarten veranschaulicht. Primäre Bezugsgröße der Kartierung ist die niederdeutsche Redeweise von Proband:innen verschiedener Altersgruppen im engen Netz der Untersuchungsorte. Auf die Zusammenfassung der Befunde aus den untersuchten Ortspunkten in Flächenkartierungen, wie dies noch der „Sprachatlas zu Rügen und der vorpommerschen Küste“ (Herrmann-Winter 2013) vornimmt, wird verzichtet, weil derartige Flächenentwürfe die punktuell gewonnenen empirischen Daten rein interpretativ zu geschlossenen Sprachräumen extrapolieren. Das dichte Ortsnetz des DiNA lässt dialektale Teilregionen in der mecklenburgisch-vorpommerschen Sprachlandschaft in aller Regel mit hinreichender Deutlichkeit hervortreten.
Zu jedem Lemma werden die Befunde zur Verteilung der dialektalen Varianten mit den entsprechenden Symbolformen und ihrer farblichen Füllung in vier verschiedenen Zeitstufen kartiert:
- ▬ Symbol Rechteck: Repräsentiert die Variantenverteilung in den historischen Wenker-Bögen aus den Untersuchungsorten und damit die älteste Erhebungsstufe des DiNA.
Die Variantenwahl der Proband:innen aus der DiNA-Stichprobe wird pro Altersgruppe ihrerseits in einer eigenen Karte mit den entsprechenden Symbolen an den Ortspunkten kartiert:
- ■ Symbol Quadrat: Veranschaulicht die Befunde für die ältesten Proband:innen der DiNA-Stichprobe, Gruppe ‚alt‘, geb. 1880–1904.
- ● Symbol Kreis: Veranschaulicht die Variantenverteilung bei den Angehörigen der mittleren Altersgruppe der Stichprobe, Gruppe ‚mittel‘, geb. 1905–1925.
- ▲ Symbol Dreieck auf Basis: Veranschaulicht die Variantenverteilung bei den jüngsten Proband:innen der Stichprobe, Gruppe ‚jung‘, geb. 1926–1948.
Die Karten für die jeweilige Altersgruppe können durch Linksklick auf der entsprechenden Schaltfläche im Fenster „Ebenen“ aufgerufen werden. Eine Kombination mehrerer oder aller Zeitstufen ergibt ein anschauliches Bild von der sprachhistorischen und räumlichen Dynamik, die sich gegen die historische Orientierungsstufe der Wenker-Erhebung in apparent time in den unterschiedlichen Redeweisen der in den 1960er Jahren aufgenommenen Proband:innen verschiedener Altersgruppen abzeichnet. Die farbliche Füllung der Symbole veranschaulicht, welchen Variantentyp die jeweilige Gewährsperson in ihren niederdeutschen Übersetzungen realisiert. Eine graue Füllung der Symbole wird gewählt, wenn es in den Äußerungen der Gewährspersonen keinen auswertbaren Beleg für die untersuchte Variable gibt, etwa weil der betreffende Kontext in der niederdeutschen Übersetzung unverständlich ist oder mit anderem Wortmaterial paraphrasiert bzw. ganz ausgelassen wurde. Die DiNA-Karten zeigen einfache schwarze Ortspunkte überall dort, wo an den entsprechenden Orten die betreffende Erhebung nicht durchgeführt wurde, etwa wenn dort keine Wörterbuchsätze erhoben wurden oder keine historischen Wenker-Bögen vorliegen. Auch wenn es an einzelnen Orten keine ortsfesten Repräsentanten für die jeweils kartierte Altersgruppe gab, wird im Kartenbild nur der betreffende Ortspunkt wiedergegeben.
Während die bisher genannten Karten die zeitlichen und räumlichen (Um)strukturierungen der nordostniederdeutschen Dialektlandschaft seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ins Bild setzen, kann ein weiterer Kartentyp des DiNA Aspekte der situativen Varianz aufzeigen. Die Transkription und Auswertung der niederdeutschen Interviews aus dem Tonkorpus der 1960er Jahre bietet die Möglichkeit, die stark selbstkontrollierten niederdeutschen Übersetzungen unserer Gewährspersonen mit ihrem spontansprachlichen Niederdeutschgebrauch zu kontrastieren. Der Vergleich des intendierten Niederdeutsch der Übersetzungen mit dem dialektalen Sprachgebrauch im freien Gespräch wird auf die jüngste Altersgruppe der DiNA-Stichprobe beschränkt, deren Lebensspanne bis in die Gegenwart reicht. Variationsphänomene, die in der Übersetzung des Festen Textes an einem Belegkontext analysiert wurden, können in den Interviews mitunter an mehreren gleichartigen Belegkontexten untersucht werden. Die an mehreren gleichartigen Belegkontexten der Interviews realisierten Varianten werden quantitativ miteinander ins Verhältnis gesetzt und ihre Gebrauchshäufigkeit in den Karten mit Tortendiagrammen veranschaulicht. Auf den Karten zur situativen Varianz stehen sich die Symbole für die Einzelbefunde aus den Festen Texten der jüngsten Proband:innen und die Tortendiagramme gegenüber, die die Variantenverhältnisse in den spontansprachlichen Texten dieser Proband:innen symbolisieren. In die Karten gebracht vermitteln diese Gegenüberstellungen nicht nur einen Eindruck von der Situationsabhängigkeit des niederdeutschen Sprachgebrauchs, sondern auch ein Bild von den Raumstrukturen im spontansprachlichen Niederdeutsch der jüngsten Gewährspersonen aus Mecklenburg-Vorpommern.
6.2. Klingende Karten
Der DiNA präsentiert die linguistischen Befunde aus den Tonaufnahmen der 1960er Jahre nicht nur grafisch in Karten und in zahlenmäßiger Auswertung, sondern auch akustisch über Tonausschnitte aus den Übersetzungen des Festen Textes. Um den DiNA-Karten diese zweite Anschauungsdimension zu unterlegen, wurden die mündlichen Übersetzungen aller Proband:innen satzweise in Audiosnippets geschnitten. Mit der Audiofunktion kann per Mausklick auf den Ortspunkt zu jeder Variable die niederdeutsche Realisierung des Belegsatzes durch die jeweiligen Proband:innen im Originalton abgehört werden. Da wir Audiosnippets nur zu den in Rostock, Greifswald und Marburg überlieferten digitalen Versionen des Tonkorpus anfertigen konnten, sind die klingenden Karten des DiNA nur auf den Raum Mecklenburg-Vorpommern beschränkt und können keine Tonbelege für Brandenburg, Niedersachen oder Schleswig-Holstein präsentieren.
6.3 Legende und weitere Karteninformationen
Jede einzelne Karte wird mit einer Legende erläutert, die die kartieren Variantentypen und den Belegkontext ihrer Realisierung anführt. Abrufbar sind auch soziodemografische Basisdaten zu den Proband:innen, auf die die jeweiligen Sprachaufnahmen zurückgehen (Geburtsjahr, Beruf). In den Kartenlegenden wird außerdem auf ältere Kartenwerke zu Mecklenburg-Vorpommern verwiesen, wenn sich in diesen dialektgeografischen Publikationen Karten zu denselben linguistischen Phänomenen finden, die in den DiNA-Karten veranschaulicht werden. Hier wird also gegebenenfalls auf Vergleichskarten in Georg Wenkers „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, in Walther Mitzkas „Deutschen Wortatlas“ (1951–1980), im zweiten Band des „Norddeutschen Sprachatlas“ (Elmentaler / Rosenberg 2022) oder im „Sprachatlas für Rügen und die vorpommersche Küste“ von Herrmann-Winter (2013) hingewiesen.
6.4 Quantitative Aufschlüsselung der Befunde
Jeder Karte des DiNA ist außerdem eine quantitative Aufstellung der Zahlenverhältnisse unter den Variantentypen beigegeben, die von den Proband:innen der drei untersuchten Altersgruppen in Mecklenburg-Vorpommern gewählt wurden. Die tabellarische Aufstellung der absoluten Beleganzahlen und der durchschnittlichen Gebrauchshäufigkeiten der Varianten wird jeweils durch einen kurzen Kommentartext erläutert, der die favorisierten Mehrheitsformen und gegebenenfalls die sprachhistorischen Entwicklungstrends identifiziert, die sich in den Zahlenrelationen unseres mecklenburgisch-vorpommerschen Aufnahmekorpus abzeichnen. Die quantitative Aufschlüsselung der Ergebnisse der Variablenanalyse kann über ein eigenes Fenster auf der Nutzeroberfläche zur jeweiligen Karte eingesehen werden.
6.5 Kommentierung
Die Ergebnisse der Variablenanalyse werden in Kommentaren erläutert und interpretiert, die die betrachteten linguistischen Themen in einer die verschiedenen untersuchten Belegkontexte umgreifenden Gesamtperspektive thematisieren. Die Befunde für die mecklenburgisch-vorpommersche Vokalhebung vor r beispielsweise wird in einem übergreifenden Kommentar zusammengefasst und interpretiert, der in gleicher Form allen Belegkontexten beigegeben wird, die für den DiNA am Korpus der Tonaufnahmen untersucht worden sind. Das waren im Falle der Vokalhebung die Belegwörter sehr, erst, Korn, gehört und Pferde. Der Kommentar „Die mecklenburgisch-vorpommersche Vokalhebung vor r“ ist also zu den Lemma-Karten sehr, erst, Korn, gehört und Pferd in einem Fenster der Nutzeroberfläche abzurufen. Den Befunden zur lexikalischen und pragmatischen Variation, die in den Festen Texten nur in einem einzigen Belegkontext untersucht werden können, wird dagegen jeweils ein eigener Kommentar gewidmet. Ein zusammenfassender Kommentar zum Gebrauch aller untersuchten Wörter oder pragmatischen Wendungen im Mecklenburgisch-Vorpommerschen erscheint wenig sinnvoll.
Anders als im „Norddeutschen Sprachatlas“ (NOSA 2) erheben die Kommentare im DiNA nicht den Anspruch, die linguistische Forschungsdiskussion zu den jeweiligen Variablen vollständig und im Detail zu referieren. Die einleitende Darstellung zu Untersuchungsthema und seinem sprachlichen Hintergrund wollen lediglich eine allgemeine und auch für Nichtfachleute nachvollziehbare Orientierung bieten. Auf besonders einschlägige Titel der vertiefenden Forschungsliteratur zu den Variablen weisen wir die Nutzerinnen und Nutzer hin. Neben den einleitenden Bemerkungen zum betrachteten linguistischen Thema und seinem sprachlichen Hintergrund erläutern die Kommentare in einem weiteren Abschnitt die Datengrundlage für alle ausgewerteten Belegkontexte zur jeweiligen Variable. Die daran anschließende Darlegung der Analyseergebnisse berührt zum einen Aspekte der Gebrauchshäufigkeit der Varianten und des Sprachwandels, zum anderen werden die Befunde unter dem Aspekt der regionalen Verteilung und räumlichen Dynamik vorgestellt sowie in einem eigenen Abschnitt der Aspekt der situativen Varianz beleuchtet. Mit einer kurzen Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse und mit den schon erwähnten Literaturhinweisen schließen die Kommentare. In einigen Fällen werden den Kommentaren didaktische Hinweise angefügt, die Vorschläge unterbreiten, wie die Karten des DiNA im Niederdeutschunterricht eingesetzt werden können.
7. Danksagung
Ein großes Forschungsvorhaben wie der „Digitale Niederdeutsch-Atlas“ kann nur in der engen Zusammenarbeit mit einem umfangreichen Projektteam erfolgreich durchgeführt werden. Willem Kehnscherper, Svantje Klaas, Lena Rodehorst und Fred Weidensee übernahmen die Aufbereitung und Transkription der Audiodateien. Sie fertigten auch zahlreiche Arbeitskarten an, die im Arbeits- und Erkenntnisprozess eine wichtige Zwischenstation bildeten. Die Transliterierung der historischen Wenkerbögen lag in den Händen von Viktoria Mall, Regina Morgen und Nele Rahn. Nadine Koop transkribierte und übersetzte die Interviews und freien Erzählungen unserer Proband:innen. Es war eine Freude in diesem engagierten Team zusammenzuarbeiten, und wir sind sehr dankbar für die tatkräftige Unterstützung, ohne die dieser Atlas nicht entstanden wäre. Unser besonderer Dank gilt Robert Engsterhold, der die Programmierung unseres digitalen Atlas kompetent umsetzte und für all unsere Gestaltungswünsche eine gute digitale Lösung fand.
Zu danken haben wir auch Andreas Bieberstedt, Joachim Herrgen, Alfred Lameli, Peter Rosenberg und Jürgen Erich Schmidt, mit denen wir die Variantenauswahl und unsere Ergebnisinterpretation diskutieren konnten. Der REDE-Projektleitung, insbesondere Alfred Lameli, sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz danken wir für die Einrichtung einer eigenen REDE-Arbeitsstelle in Rostock.
All unseren Arbeiten ging aber die Phase der Digitalisierung der Magnettonbänder voraus. Hier haben wir Stefan Siebert von der Universitätsbibliothek Rostock zu danken, der eine umfassende Digitalisierung der mecklenburgischen Aufnahmen veranlasste. Andrè Köhncke und Martin Hansen verdanken wir überdies weitere mecklenburgische und vorpommersche Digitalisate der Aufnahmen. Georg Oberdorfer leitete die Digitalisierung von vorpommerschen Tonbändern, die von Renate Herrmann-Winter an das Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg übergeben worden waren. Für die Analyse der Übersetzungen des sogenannten Festen Textes konnten wir zusätzlich auch die Digitalisate in der Datenbank für Gesprochenes Deutsch des Leibniz-Instituts für deutsche Sprache heranziehen (https://dgd.ids-mannheim.de). Dankenswerterweise wurde das große Korpus der Dialektaufnahmen der 1960er Jahre digital gleich mehrfach und an mehreren Standorten überliefert. Diese Digitalisierungen machten nicht nur die linguistische Analyse der Tonaufnahmen überhaupt erst möglich, sie bewahrten diese Tondokumente auch vor ihrem zum Teil schon fortgeschrittenen Verfall und retteten dieses wertvolle Audiokorpus für die Nachwelt.
Ermöglicht wurde die Erstellung des DiNA durch die Finanzierung im Rahmen des Akademienprogramms. Dafür sei insbesondere der Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz sowie dem Land Mecklenburg-Vorpommern und der Universität Rostock gedankt.
8. Zitierte Literatur
Ehlers, Klaas-Hinrich (2015): „Vertriebenen-Linguistik. Geschichte und Profil der germanistischen Forschung zu den sprachlichen Folgen der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg.“ In: Hassler, Gerda (Hrsg.): Metasprachliche Reflexion und Diskontinuität. Wendepunkte – Krisenzeiten – Umbrüche. Münster, 208–221.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2022a): Die ‚Tonbandaufnahmen der deutschen Mundarten‘ im Kontext der (niederdeutschen) Dialektologie der DDR. In: IDS-open 3 <urn:nbn:de:bsz:mh39-109540>.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2022b): Geschichte der mecklenburgischen Regionalsprache seit dem Zweiten Weltkrieg. Varietätenkontakt zwischen Alteingesessenen und immigrierten Vertriebenen. Teil 2: Sprachgebrauch und Sprachwahrnehmung. Berlin.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2023): „Die Entwicklung der (niederdeutschen) Dialektologie in der DDR — beleuchtet an Planung, Durchführung und Vergessen der ‚Tonaufnahmen der deutschen Mundarten‘.“ In: Bieberstedt, Andreas / Brandt, Doreen / Ehlers, Klaas-Hinrich / Schmitt, Christoph (Hrsg.): 100 Jahre Niederdeutsche Philologie: Ausgangspunkte, Entwicklungslinien, Herausforderungen. Teil 1: Schlaglichter auf die Fachgeschichte. Berlin, 429–451.
Ehlers, Klaas-Hinrich (2025): „Der Digitale Niederdeutsch-Atlas für Mecklenburg-Vorpommern und seine Relevanz für den Niederdeutschunterricht. Ein Projektbericht.“ Erscheint in: Arendt, Birte / Buchmann, Franziska / Langhanke, Robert (Hrsg.): Niederdeutschdidaktik, Teil 2.
Elmentaler, Michael / Rosenberg, Peter (2022): Norddeutscher Sprachatlas (NOSA). Bd. 2: Dialektale Sprachlagen. Unter Mitarbeit von Klaas-Hinrich Ehlers, Robert Langhanke, Hannah Reuter und Viola Wilcken; Kartografie, Layout und Satz: Ulrike Schwedler. Hildesheim, Zürich, New York.
Gundlach, Jürgen (1967): „Plattdeutsch in Mecklenburg heute. Bericht über die Tonbandaufnahmen der mecklenburgischen Mundart 1962 / 1963“. In: Rostocker Beiträge. Regionalgeschichtliches Jahrbuch der mecklenburgischen Seestädte1, 173–194.
Herrmann-Winter, Renate (2013): Sprachatlas für Rügen und die vorpommersche Küste. Kartographie Martin Hansen. Rostock.
König, Werner / Elspaß, Stephan / Möller, Robert (2015): dtv–Atlas Deutsche Sprache. Mit 155 Abbildungsseiten in Farbe. Grafiker Hans-Joachim Paul. 18. Aufl. München.
Mitzka, Walther / Schmitt, Ludwig Erich [ab Band 5] (1951–1980): Deutscher Wortatlas. 22 Bände. Gießen.
NOSA 2 = Elmentaler, Michael / Rosenberg, Peter (2022)
REDE 2020ff. = Schmidt, Jürgen Erich / Herrgen, Joachim / Kehrein, Roland / Lameli, Alfred / Fischer, Hanna (Hrsg.) (2020 ff.): Regionalsprache.de (REDE III). Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Bearbeitet von Robert Engsterhold, Marina Frank, Heiko Girnth, Simon Kasper, Juliane Limper, Salome Lipfert, Georg Oberdorfer, Tillmann Pistor, Anna Wolańska. Unter Mitarbeit von Dennis Beitel, Lisa Dücker, Lea Fischbach, Milena Gropp, Heiko Kammers, Maria Luisa Krapp, Vanessa Lang, Nathalie Mederake, Jeffrey Pheiff, Bernd Vielsmeier. Studentische Hilfskräfte. Forschungsplattform zu den modernen Regionalsprachen des Deutschen. Marburg: Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas. <https://regionalsprache.de>.
Schädlich, Hans-Joachim / Große, Rudolph (1961): „Tonbandaufnahmen der deutschen Mundarten in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Forschungen und Fortschritte 35 (1961), 358–363.
Wiesinger, Peter (1983): „Die Einteilung der deutschen Dialekte“. In: Besch, Werner et al. (Hrsg.): Dialektologie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dialektforschung. 2. Halbband. Berlin, New York: 807–900.
9. Anhang
9.1 Fester Text
(in ganz Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt, in Publikationen auch bezeichnet als „Vergleichstext I“, mit Varianten nach der Version in Gundlach 1967: 189)
FT 1: Guten Tag!
FT 2: Wie geht es dir?
FT 3: Was macht dein Junge?
FT 4: Ich habe gehört, dass er sich das Bein gebrochen hat.
FT 5: So, er darf schon bald wieder laufen!
FT 6: Es muss ihm doch aber sicher sehr weh getan haben, nicht wahr?
FT 7: Am Sonnabend haben wir meine Schwester besucht.
FT 8: Sie ist auch krank gewesen.
FT 9: Jetzt geht es ihr schon wieder besser.
FT 10: Als wir gestern Abend zurückkamen, da lagen die anderen schon im Bett und schliefen fest.
FT 11: Es war schon sehr (recht) spät.
FT 12: Ein schlechtes Wetter hatten wir auf dem Heimweg!
FT 13: Es hat geschneit.
FT 14: Der Schnee ist sogar diese Nacht liegen geblieben und ist erst heute Morgen geschmolzen.
FT 15: Am Tage (tagsüber) taut es noch immer wieder.
FT 16: Aber es wird wohl einen harten (strengen) Winter geben dieses Jahr.
FT 17: Wo gehst du denn hin?
FT 18: Willst du nicht mit mir gehen?
FT 19: Die Leute sind alle draußen auf dem Anger (vor dem Dorf).
FT 20: Die Bauern haben Schweine, Ochsen, Kühe, Hammel, Lämmer aufgetrieben (hingebracht), die wollen sie abliefern (verkaufen).
FT 21: Zum Fleischer kannst du doch euer Mädchen schicken.
FT 22: Und bei der Frau, die euch helfen soll, bin ich gerade gewesen.
FT 23: Sie tat so, als hättet ihr sie gar nicht bestellt.
FT 24: Wir können es ihr ja dann noch einmal sagen.
FT 25: Ich muss auch beim Tischler vorbei gehen (vorsprechen, nachfragen), ob unser Schrank fertig ist.
FT 26: Der hat übrigens erzählt, dein Bruder wolle (will) in eurem Garten eine neue Scheune bauen.
FT 27: Nicht wahr, der redet ja oft solchen Unsinn.
FT 28: Der schöne Garten mit den vielen Apfelbäumen.
FT 29: Nun, wenn du nicht mitkommen kannst!
FT 30: Auf Wiedersehen!
9.2 Wörterbuchsätze
Die sogenannten Wörterbuchsätze sind in unterschiedlichen Teilregionen in unterschiedlichen Versionen abgefragt worden. Vgl. dazu die Kartendarstellung in Gundlach 1967: 191. Zum Teil variieren auch die Textvorlagen für die einzelnen Regionen in einigen Sätzen.
Wörterbuchsätze MV I, im Nordwesten Mecklenburgs eingesetzt
(nach Gundlach 1967: 189)
WBS 1.1: Nach der Ernte lag (war) wieder mehr Korn im Scheunenfach.
WBS 1.2: Die Leute sind alle auf dem Felde und mähen.
WBS 1.3: Du sollst den Regenwurm nicht tot treten!
WBS 1.4: Er hat ihn am Arm festgehalten.
WBS 1.5: Er ist nicht zufrieden, das Papier ist ihm zu teuer.
WBS 1.6: Er streicht sich mit der Hand über den Bart.
WBS 1.7: Wir wollen um zehn Uhr mit vier Pferden in die Stadt fahren und den Hund mitnehmen.
WBS 1.8: Der Enterich saß auf dem hohen Zaun.
WBS 1.9: Das Wasser ist rein.
Wörterbuchsätze MV II, im Südosten Mecklenburgs eingesetzt
(nach Gundlach 1967: 1989–190)
WBS 2.1: Wir wollen erst die Kälber tränken und dann aufs Feld hinausgehen (und Kartoffeln sammeln).
WBS 2.2: Mein Bruder will heute das Gras mit der Sense mähen.
WBS 2.3: Nach der Ernte war wieder mehr Korn im Scheunenfach.
WBS 2.4: Du sollst erst mit dem linken Fuß auf die Leitersprosse treten.
WBS 2.5: Die Karre ist dem Mädchen über das Bein gefahren.
WBS 2.6: Der Erpel und die Gans sind in den (Zieh-)Brunnen gefallen.
WBS 2.7: Unsere liebes Mütterchen war sehr krank gewesen.
WBS 2.8: Fünfunddreißig Ameisen waren im Honigglas ertrunken.
WBS 2.9: Weiter soll ich nun nichts sprechen.
Wörterbuchsätze MV IIa, im Osten Mecklenburgs eingesetzt
(nach Gundlach 1967: 190, 1. bis 3. Wie Wörterbuchsätze II)
WBS 2a.4: Er muss mit dem linken Fuß auf die Leitersprosse treten.
WBS 2a.5: Die Karre ist dem Mädchen über das Bei gefahren.
WBS 2a.6: Der Erpel und die Ente waren in den (Zieh-)Brunnen gefallen.
WBS 2a.7: Der Schneider tat uns gern den Gefallen.
WBS 2a.8: 35 Ameisen waren im Honigglas ertrunken.
WBS 2a.9: Das macht ihm nichts aus, schreien tut er nicht.
WBS 2a.10: Die Kröte war größer als der Frosch.
Wörterbuchsätze MV III, im Südwesten Mecklenburgs eingesetzt
(nach Gundlach 1967: 190)
WBS 3.1: Nach der Ernte lag wieder mehr Korn im Scheunenfach.
WBS 3.2: Beim Mähen mit der Sense hat er den Regenwurm durchgeschnitten.
WBS 3.3: Wir wollen um zehn Uhr mit vier Pferden in die Stadt fahren und den Hund mitnehmen.
WBS 3.4: Die Kinder laufen alle hinter dem Erpel her bis zur Schafweide. (Grundlach 1967: Die Kinder liefen hinter dem Enterich her (bis zu den Schafhürden)
WBS 3.5: Sie stellten das Bier und den Fisch auf den Tisch.
WBS 3.6: Er hat dem Eber ein Ohr abgeschnitten.
WBS 3.7: Die Leute haben das Feld vom Hederich rein gemacht.
WBS 3.8: Wir wollen erst das Vieh tränken und dann nachher Kartoffeln sammeln.
WBS 3.9: Da saßen immer mehr Krähen im Heu.
WBS 3.10: Auf der Brache laufen Kröten und Frösche umher. (nur im äußersten Südwesten Mecklenburgs ergänzt)
Wörterbuchsätze für Vorpommern
(diese Wörterbuchsätze, die in Publikationen auch als „Vergleichstext II“ bezeichnet werden, sind in ganz Vorpommern eingesetzt worden)
WBSV 1: Die Kinder spielen auf der Straße ‚Himmel und Hölle‘.
WBSV 2: Sie hüpfen dabei auf einem Fuß von einem Fach zum anderen.
WBSV 3: Auf dem Teich auf der Wiese sind ein paar Enten und ein Enterich.
WBSV 4: Jetzt ducken sie sich unter das Wasser.
WBSV 5: Mutter hat gerade fünfzehn Kühe gemolken.
WBSV 6: Sie hat sich ein Kopftuch umgebunden, weil es so windig ist.
WBSV 7: Auf der Straße kommt plötzlich ein Auto.
WBSV 8: Vater ruft laut und die Kinder laufen schnell weg.
WBSV 9: Hans legt das Pferdegeschirr auf die Wagendeichsel und spannt die Pferde an. Er will Kartoffeln vom Feld holen.
WBSV 10: Er fährt an einem Brunnen vorbei.
WBSV 11: Da steht ein Schaf mit einem Bocklamm und einem Mutterlamm.
WBSV 12: Fritz steht auf der siebten Leitersprosse und pflückt Beeren.
WBSV 13: Äpfel isst er nicht gerne, weil er davon solche stumpfen Zähne kriegt.