Der folgende Text basiert auf dem Werk:

König, Werner / Schrambke, Renate (1999): Die Sprachatlanten des schwäbisch-alemannischen Raumes: Baden-Württemberg, Bayerisch-Schwaben, Elsaß, Liechtenstein, Schweiz, Vorarlberg. Bühl: Konkordia-Verlag (Themen der Landeskunde 8).

Wir danken den Autoren für die freundliche Bereitstellung.

 

Der Wortatlas der deutschen Umgangssprachen

Schon früh wurde beobachtet, daß es neben den Dialekten und der relativ einheitlichen Standardsprache eine große Anzahl an Zwischenstufen zwischen den eben genannten Polen gibt. Man hat zwar das, was zwischen Dialekt und Hochlautung liegt, schon als Halbmundart bezeichnet, häufiger ist jedoch die Bezeichnung Umgangssprache. Ihre Variabilität ist sehr groß, das Spektrum ihrer Varianten gewaltig. Es ist sehr schwierig, in der Stufenleiter, die vom Dialekt zum Hochdeutschen führt, einen (stabilen) Zwischenbereich abzugrenzen. Denn bei dem im Süden vorhandenen Variantenspektrum mit seinem im lautlichen Bereich kontinuierlichen Übergängen ist eine einheitliche Sprachebene, die für den geographischen Vergleich notwendig ist, fast nicht herzustellen. Am ehesten geht es im Bereich des Wortschatzes, da hier das Abstufungsmuster gröber ist.

 

Die Umgangssprachen im Süden Deutschlands und in Österreich kann man in vielen Fällen als Sprachkontakterscheinungen zwischen Dialekt und Hochsprache erklären (MUNSKE 1983). Sie sind aus den Dialekten durch Annäherung an Sprachformen mit größerer regionaler Reichweite entstanden. Allerdings gibt es auch Erscheinungen, die nur dieser „Zwischenschicht“ eigen sind, d.h. weder von der Hochsprache noch von den Grunddialekten her erklärbar sind. Im Norden Deutschlands, wo der Dialekt, das Platt, um ein Vielfaches weiter vom Hochdeutsch entfernt ist, gibt es diesen kontinuierlichen Übergang nicht. Die Umgangssprachen werden dort als lässiges, schlampiges Hochdeutsch verstanden.

 

Diese Umgangssprachen sind sicher die bis heute meistverwendete mündliche Sprachform; die Dialekte verlieren immer mehr Sprecher und Domänen; sie werden nicht vom Hochdeutschen verdrängt, sondern von jenen großräumigen Umgangssprachen.

    Schon 1918 hatte Paul KRETSCHMER seine „Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache“ veröffentlicht, ein gewichtiges Werk, das den Wortgebrauch „der Gebildeten“, „des gesellschaftlichen Verkehrs“ dokumentieren sollte (KRETSCHMER 1918: 10). KRETSCHMERs Arbeit litt aber darunter, daß seine Ergebnisse nicht in Kartenform publiziert, sondern die geographischen Verhältnisse im Text beschrieben wurden, so daß das Vorkommen der einen oder der anderen Form nur schwer in seiner Verbreitung vorzustellen ist. Heute ist dieses Werk vor allem von historischem Interesse. Der erste und bisher einzige, der aus seinem Material zu den Umgangssprachen des gesamten deutschsprachigen Raumes einen Atlas erstellte war Jürgen EICHHOFF.

    Er begann mit seiner Arbeit von der Universität Madison (Wisconsin) im Jahr 1970. Als Ziel des Atlasses wurde definiert, den gegenwärtigen Sprachgebrauch, das gesprochene Deutsch, die „Umgangssprachen als örtlich übliche Sprachformen des täglichen Umgangs“ (EICHHOFF 1977: 9) zu dokumentieren. Man wollte  den „vorherrschenden Wortgebrauch in der ungezwungenen Unterhaltung im Kreise der Familie, unter Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen“ (EICHHOFF 1977: 10) erfassen. Es wurde oben schon auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich bei der Isolierung dieser Sprachform ergeben, zumal sich bei Sprachatlasunternehmen aus Gründen der Praktikabilität die Arbeit mit Aufnahmen von spontanen Gespräch verbietet (vgl. S. 40 ff.). EICHHOFF kehrte deshalb zu den klassischen Erhebungsmethoden zurück, nämlich zur direkten Erhebung, und wo diese nicht möglich war (z.B. in der damaligen DDR und aus anderen Gründen anderswo) zur Fragebogenmethode. Da der Wortgebrauch jedem Sprecher sehr viel bewusster ist als z.B. die verwendeten lautlichen Schattierungen und sich auch nicht so vielgestaltig darstellt, ist diese Methode der Erhebung durchaus angemessen. Die Ergebnisse, die der „Wortatlas der deutschen Umgangssprachen“ (WDU) bietet, rechtfertigen Eichhoffs Vorgehen. Der WDU umfasst fast alle deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, die alte BRD, die damalige DDR, die deutsche Schweiz, Österreich und Südtirol. Das Elsaß ist nicht berücksichtigt, weil dort eine zwischen Hochsprache und Dialekt angesiedelte deutsche Umgangssprache nicht vorhanden ist. 402 Ortspunkte gibt es auf der Grundkarte, aus den 539 Aufnahmen vorliegen. Als Aufnahmeorte kamen nur Städte ab ca. 20 000 Einwohner in Frage. Um die Gleichmäßigkeit des Ortsnetzes nicht zu gefährden, kam es in Ballungsgebieten vor, dass auch größere Städte unberücksichtigt blieben.

    Die Aufnahmen fanden von 1971 bis 1976 statt. Als Gewährspersonen wurden Sprecher der jüngeren und mittleren Generation ausgewählt. Sie sollten im Aufnahmeort geboren, aufgewachsen und noch ansässig sein. Als ideale Gewährsperson galt der ortsfeste Angestellte oder Beamte der mittleren oder unteren Verwaltungslaufbahn.

    Wo Abweichungen von diesen Vorgaben vorhanden sind, ist das dokumentiert (EICHHOFF 1977: 38–48). Auch bei der direkten Erhebung wurden die Antworten der Gewährspersonen mit Hilfe des normalen Alphabets niedergelegt. Nur „wo Missverständnisse möglich waren, vor allem wenn ein Wort im Standarddeutschen fehlt“ (EICHHOFF 1977: 15), wurden „phonetische Schriftzeichen herangezogen“, ein für die Wortgeographie  völlig ausreichendes Verfahren. Die Gewährspersonen wurden nicht nach ihrem persönlichen Wortgebrauch gefragt, sondern nach dem, was am Untersuchungsgebiet gewöhnlich und üblich ist.

 

Abb 53: WDU – Wortatlas der deutschen Umgangssprachen. Die Abbildung zeigt eine Seite (verkleinert) aus dem Fragebuch, mit dem das sprachliche Material zu diesem Atlas erhoben wurde.

 

Abb 54: WDU – Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, Karte 59 "Das Brötchen". Die Originalmaße der Karte betragen ca 19 x 23 cm; die Wiedergabe ist hier auf etwa 36 % verkleinert. WDU (Bd. 2).

 

Abb. 55: WDU – Wortatlas der deutschen Umgangssprachen, verkleinerter Ausschnitt aus dem Kommentar zu Karte 59 "Das Brötchen".

 

    Der Atlas sollte vor allem Begriffe beschreiben, die aus dem Erfahrungsbereich des Alltags stammen, im alltäglichen Wortgebrauch vorkommen und auch in der deutschsprachigen Literatur enthalten sind. Das ergab sich aus den Erfahrungen im Unterricht „Deutsch als Fremdsprache“, wo bezüglich solcher geographischen Variation große Unsicherheit herrscht. So umfassen die Fragebogen und auch der Atlas Kapitel wie: Der Mensch, Essen und Trinken, Pflanzen und Tiere, Arbeit und Beruf.

    Der Fragebogen hatte neben den Angaben zum Ort und zum Informanten insgesamt 147 Positionen (vgl. Abb. 53 auf S. 131). Daraus konnten 125 Karten in zwei Bänden publiziert werden. Von diesen sind 102 „klassische“ Wortkarten (vgl. Abb 54 auf S. 132 und Abb. 55 auf S. 133), die restlichen behandeln Phänomene der Aussprache, der Wortbetonung und der Syntax, wie z.B. die Aussprache des <Ch-> in „China“, den Abfall des <e-> in „Leute“ oder das Vorkommen von „sein“ und „haben“ in der Perfektform ich habe / bin / war auf dem Stuhl gesessen. Die Karten sind als Symbolkarten angelegt, denn das relativ weitmaschige Ortsnetz ließ eine Isoglossendarstellung nicht zu. Die Belege werden in der Legende sehr stark typisiert mit den normalen Buchstaben des Alphabets wiedergegeben. Durch eine im Bereich deutscher Sprachatlanten erstmals verwendete „Syntax“ innerhalb der Symbolzeichen eines Ortes werden neue Möglichkeiten der kartographischen Darstellung eröffnet: Durch die Verwendung von Punkt, Doppelpunkt und Komma erfährt der Leser mehr über das Verhältnis der Belege, wenn mehrere solche an einem Ort vorhanden sind. Das System, das später in Teilen auch vom SBS aufgenommen wurde, sei hier im Wortlaut des WDU wiedergegeben (Bd. 2, S. 39):

 

                                                      x.y    Aus dem Ort sind zwei Bezeichnungen gemeldet. Die Bezeichnung x kommt häufiger vor als die Bezeichnung y.

                                                      x:y    Aus dem Ort liegen verschiedene Meldungen vor. x ist die Meldung der jüngeren, y der älteren Gewährspersonen.

                                                      x,y    Zwei Meldungen aus einem Ort, die gleich häufig vorkommen.

                                                       v      Vereinzelte Meldung. Die Meldung ist in der Liste unterhalb der Legende aufgeführt.

                                                       +     Variante, die auf dem Fragebogen zusätzlich zu der in der Legende angeführten Hauptform gemeldet ist.

 

    Zu jeder Karte gibt es einen Kommentar, der neben dem genauen Wortlaut der Frage und der genauen Beschreibung der erfragten Sache auch weitere Informanten bringt: z.B. zu vereinzelten Meldungen, die keinen Platz auf der Karte fanden, zur Gebrauchshäufigkeit und zum sonstigen Gebrauchswort, zu Schreibeigentümlichkeiten, zu Lautvarianten; wohl alles, was sich an Zusatzinformationen auf den Fragebogen bzw. Aufnahmeprotokollen fand, wird hier aufgelistet.

    Nach den gleichen Prinzipien hat Jürgen EICHHOFF einen zweiten Fragebogen mit ebenfalls 147 Fragen erstellt und die Antworten von 1977 an teils direkt, teils indirekt erhoben. Die Anzahl der Belegorte hat sich bei dieser zweiten Aktion um zwei auf 404 erhöht, 620 ausgefüllte Fragebogen aus diesen Orten sind die Grundlage für weitere zwei Bände des WDU, von denen der erste 1993 (als Band 3) erschienen ist. Dieser dritte Band enthält 62 Karten, meist Wortkarten, aber auch einige Karten zu Themen der Syntax, die in der Sprachgeographie selten sind, so z.B. die Verbreitung der Adverbien natürlich / freilich, der Präposition in der Fügung  (zählen) bis / auf, von denen das zweite fast nur im Alemannischen vorkommt oder zur Verbreitung  der Wendungen ist / gehört (der Ball dir). EICHHOFFS WDU bietet wichtige und wertvolle Informationen zu den wortgeographischen Verhältnissen des Substandards. Das wird besonders deutlich, wenn man seine Karten mit denen des DWA vergleicht. Das ist bisher in größerem Umfang noch nicht geschehen. Für die „klassische" Dialektologie überraschend ist die Tatsache, daß im Bereich der Umgangssprachen die alte niederdeutsch-hochdeutsche Sprachgrenze eine geringere Rolle spielt als die Mainlinie (DURRELL 1989). Hier lässt sich auch sprachlich ein Bewusstseinsgegensatz dokumentieren, der bei Teilen der Bevölkerung bereits seit längerem vorhanden ist (vgl. WEBER 1991).